Semir setzte sich neben Ben auf die Parkbank. Sein Freund hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah in den Himmel. „Die Ärzte sagen, dass Thore Glück hatte. Das größte Problem ist wohl der Blutverlust gewesen, scheint als hätten seine Organe nichts abbekommen.“
„Das ist gut.“
„Ich war auch bei Nora und habe mit ihr über die Dinge gesprochen, die passiert sind.“ Bens Stimme versagte. „Ich wünschte, wir hätten den Tod ihres Vaters verhindern können.“
„Wir sollten froh sein, dass die beiden noch leben.“ Semir lehnte sich nach vorne, setzte die Ellenbogen auf die Knie und legte den Kopf in seine Handflächen. „Ich hatte Angst um dich. Der Kerl war gefährlich und wer weiß, was passiert wäre, wenn wir dieses Gelände nicht rechtzeitig gefunden hätten.“
Ben seufzte. „Wärt ihr nicht aufgetaucht, dann wären wir sicherlich nicht mehr am Leben.“
„Mikael hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit wir auch schnell finden.“
„Candice, ich weiß.“
Semir nickte und dachte an die Vertrautheit zwischen den Beiden zurück. „Du Ben, er und diese Candice, ich meine, er scheint sich in ihrer Wohnung ziemlich gut auszukennen und da dachte ich vielleicht …“ Er raufte sich durch die Haare. „Sie haben keine Beziehung oder so?“
Ben sah zur Seite und zog die rechte Augenbraue hoch. „Sicher, dass du Polizist von Beruf bist? Mikael liebt nur Eva.“
„Sie waren sehr vertraut miteinander, da kann man schon einmal auf solche Ideen kommen.“
„Sie hat einige Zeit mit Niilo zusammengewohnt, daher kennt Mikael sich dort aus. Zwischen den Beiden läuft nichts, keine Angst.“
„Und zwischen ihr und Niilo?“
Ben zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht sicher, ob Niilo sich bewusst ist, wie sehr sie ihn liebt.“
„Wie soll ich das verstehen?“
Ben wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, brach aber ab, als sich ihnen eine Gestalt nährte.
„Yo!“ Mikael sprang über die Bank und setzte sich neben sie auf die Lehne. „Wie sieht es aus, ist die OP von Berg beendet?“
„Es schaut gut aus. Er wird wieder auf die Beine kommen“, antwortete Semir. „Und Nora auch.“
„Das ist gut.“ Mikael lächelte. „Jussi und Ich haben uns darauf verständigt, dass du bei der Festnahme nicht dabei warst, Semir. Ist leichter, wegen des Berichts.“
„Soll mir recht sein.“
„Wir werden zwar ein bisschen Ärger bekommen, weil ich auch keine Befugnisse habe, aber das werden wir schon durchstehen.“ Mikael sah zu Ben. „Wie kommt es eigentlich, dass Semir und Ich immer deinen Arsch retten müssen?“
„Ich kann mich an mehrere Situationen erinnern, da habe ich deinen gerettet.“
„Echt?“ Mikael lachte. „Daran kann ich mich nicht erinnern und mein Gedächtnis ist besser als deins.“
„Wer vernimmt Janne?“, wollte Semir wissen.
„Niilo“, antwortete Mikael. „Ich denke, er ist dafür am besten geeignet.“
„Ich hätte gedacht, dass er schneller an seine Grenzen gerät“, gestand sich Semir ein. „Am Ende war er wohl derjenige von uns, der den kühlsten Kopf hatte.“
„Er kann Gefühle nicht wirklich verstehen oder deuten“, sagte Ben. „Es fällt nicht auf, wenn man nicht näher mit ihm zu tun hat. Er schauspielert in einigen Situationen, so dauert es, bis man es bemerkt. Ich meine, er fühlt schon was, aber weiß es eben nicht zuzuordnen. Ach, es ist nicht so leicht zu beschreiben.“
„Oh.“
„Mir ist es auch erst ziemlich spät aufgefallen“, gab Ben zu und sah zu Mikael hoch. „Wie habt ihr die Situation mit Thore in den Bericht aufgenommen?“
„Er hat in Notwehr geschossen. Vorschriftsgemäß aufs Bein.“
Ben atmete auf. „Danke.“
„Wofür? Ich war nicht dabei, aber so wie ihr die Situation beschrieben hat, wäre es auch so als Notwehr durchgangen.“
„Dir ist schon klar, dass er ihn aus Rache hatte töten wollen?“, setze Ben skeptisch an.
„Ja und du solltest froh sein, dass sich Jussi darum gekümmert hat. Ich bin mir nicht sicher, ob er derjenige ist, der damit leben kann, einen Menschen umgebracht zu haben. Außerdem, Jussi hätte mich umgebracht, hätte ich was anders behauptet. Ich sollte wohl darauf vertrauen, dass der sich darum kümmert, dass so was nicht noch einmal vorkommt.“
Ben verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. „Was für ein Scheißtag.“
Es herrschten einige Minuten Schweigen, ehe Mikael hinter ihnen von der Bank sprang. „Wollt ihr mit zu mir kommen? Ich bin mir sicher, Eva hat nichts dagegen und ehrlich gesagt, Ben, ich denke, du solltest heute nicht in eure Wohnung gehen.“
„Du denkst, ich würde es nicht aushalten?“
„Glaub mir, du willst es nicht.“ Mikael stopfte die Hände in seine Pullovertaschen. „Warte, bis jemand die Wohnung gereinigt hat. Es ist besser so.“
„Wie du meinst, Mama.“ Ben stöhnte. „Komm Semir, wir folgen unserem gnädigen Gastgeber.“
Zwei Stunden später saßen sie vor einem reichhaltigen Abendessen und Semir verfolgte das rege Treiben in Mikaels Haushalt. Oskari sah seinem Vater immer ähnlicher, wenn er auch vom Wesen her deutlich mehr aus sich herausging als Mikael. Gerade schienen Vater und Sohn einen Streit zu haben. Zumindest waren die Stimmen lauter geworden. Semir konnte sich noch daran erinnern, als er ein kleines Bündel war und nun ging Oskari bereits in die Schule. Über die Jahre, in denen Ben in den Staaten war, hatte Semir kaum Kontakt mit Mikael gehabt, was vermutlich aber auch daran lag, dass Mikael nie eine Plaudertasche war. Es war nicht besonders leicht, ein Gespräch mit jemand zu führen, dem man alles aus der Nase ziehen musste.
„Oskari will bei einem Freund übernachten“, klärte ihn Ben auf und grinste. „Mikael ist dagegen.“
Die Argumentation dauerte noch 15 Minuten an, ehe sich Mikael an den Tisch setze und sich die Schläfe massierte. „Tut mir leid“, grummelte er. „Er wollte einfach nicht verstehen, dass ich nicht möchte, dass er unter der Woche auswärts schläft.“
„Denkst du nicht, dass sich die Eltern von dem anderen Jungen darum kümmern werden, dass sie pünktlich zur Schule kommen?“, fragte Ben.
„Du hast keine Kinder, du verstehst das nicht.“
„Da muss ich Mikael recht geben, Ben“, stimmte auch Semir zu. „Sie können ja am Wochenende bei den Freunden übernachten.“
„Ihr wieder. Euch möchte ich auch nicht als Eltern haben.“
„Ich denke nicht, dass wir schlechte Eltern sind“, knurrte Mikael. „Man muss eben klare Grenzen ziehen.“
Sie hatten noch einige Stunden zusammengesessen und über die letzten Jahre geredet, ehe sie gegen halb Eins ins Bett gegangen waren. Ben hatte sich auf dem Sofa niedergelassen und Semir das Bett im Gästezimmer überlassen. Semir hatte versucht einzuschlafen, doch nach den Geschehnissen war es alles andere als einfach. Er war nur froh, dass am Ende alles gut ausgegangen war und sie Thore und Ben gefunden hatten. Er wollte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn sie nur eine Stunde später auf dem Gelände eingetroffen wären.
*
Jussi versuchte, auf dem Krankenhausstuhl eine bequeme Haltung zu finden, doch es schien unmöglich. Er blickte auf dem Fenster. Die Sonne ging gerade auf und ein neuer Tag brach an.
„Er hätte es verdient“, flüsterte Thore aus dem Bett.
„Willkommen zurück, Prinzessin.“
„Du hättest mich ihn erschießen lassen sollen.“
„Du bist nicht der Typ für Rache, lass dich von dem Gefühl jetzt nicht auffressen. Er kommt ins Gefängnis und wird seine gerechte Strafe bekommen.“
„Er hat meinen Vater umgebracht.“
„Was hätte es gebracht? Deinem Vater nichts“, rügte Jussi. „Nora auch nicht.“
„Sie hat Ben.“
Jussi gab seinem Freund eine Kopfnuss. „Oi! Der ist nicht ihr Bruder, das bist du.“
„Ich dachte, ich würde sterben.“
„Bist du aber nicht. Und nun hast du eine Verantwortung deiner Schwester gegenüber. Sie braucht dich jetzt. Es wird keine leichte Zeit werden.“ Jussi fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Euer Onkel kümmert sich um die Beerdigung. Ihr konzentriert euch darauf, wieder fit zu werden.“
„Gestern, als du mit uns reden wolltest. Ging es darum? Um Janne?“
„Ich hatte so ein Gefühl, war mir aber nicht sicher.“ Jussi legte eine Mappe auf das Nachtschränkchen. „Du solltest dich damit auseinandersetzen, wo du nun nicht flüchten kannst. Mit der Tatsache, wieso deine Mutter sich umgebracht hat und mit den Fehlern deines Vaters.“
„Ich will das nicht lesen.“
Dafür erntete Thore den nächsten seichten Schlag auf den Kopf. „Du solltest es tun.“ Jussi stand auf. „Hör zu, ich habe es nur für dich zusammengesammelt. Du musst dich damit auseinandersetzen.“
„Dann komme ich wohl nicht drum herum, was?“
„Nein. Lass dir Zeit. Wer weiß wieviel Scheiß gerade durch deine Adern fließt.“
„Viel, ich fühle mich wie von zwei Lastwagen überrollt.“
Jussi lachte. „Einer hat wohl nicht gereicht, um es zu verdeutlichen?“
„Es fühlt sich nach zwei an.“
Jussi griff nach dem Stuhl und stellte ihn zurück. „Ich werde deiner Schwester sagen, dass es dir gut geht. Wir sehen uns später, ja?“
Jussi wollte gerade aus dem Zimmer gehen, als Thore ihn zum Warten aufforderte. Er drehte sich herum. „Was ist?“
„Danke.“
„Wofür?“
„Du weißt schon wofür, Baka.“
Jussi drehte sich wieder weg und hob die Hand. „Wir sehen uns.“