Nachdem aus dem Tank des Horrorhauses Gewebereste geborgen waren, fuhr Hartmut zurück in die KTU. Er hatte insgesamt Material für mehrere Wochen Arbeit, aber beginnen würde er mit der Gewinnung der DNA aus dem Tank und Susanne würde zugleich einen Abgleich der Vermisstenanzeigen vornehmen. Die Beschreibung des Opfers lag -von Zofia gegeben- auch vor, aber im Endeffekt hatten sie das schon fast gewusst-auch dieser Mann hatte beinahe ausgesehen wie Ben, das war Maria´s Beuteschema. Hartmut zog seinen weißen Labormantel an und machte sich an die Arbeit, als wenig später schon Susanne bei ihm anrief: „Hartmut-ich habe eine Vermisstenanzeige gefunden, die passen könnte. Ein Düsseldorfer Vertreter für Landmaschinentechnik ist vor drei Monaten verschwunden. Seine Frau hat das zwar gemeldet, aber ausgesagt, dass es auch möglich wäre, dass ihr Mann sich abgesetzt hätte, weil die Ehe gerade am Zerbrechen war und er wohl zuvor schon mehrfach fremd gegangen war. Deshalb haben die Kollegen da nicht intensiver ermittelt, aber es dürfte kein Problem darstellen, zum Vergleich eine DNA-Probe zu gewinnen, wenn du Ergebnisse hast“, informierte sie ihn und natürlich auch Frau Krüger. Die schickte gleich zwei Beamte in die Wohnung des Vermissten, um Material zu gewinnen und die kamen mit der Zahnbürste und anderen persönlichen Dingen des Mannes zurück.
Während die Diagnosecomputer liefen, nahm sich Hartmut handgeschriebene Aufzeichnungen Mengele´s, die säuberlich in Ringbüchern abgeheftet waren, vor, glich manche Daten mit dem Internet ab und ein Schauer des Entsetzens nach dem anderen lief ihm über den Rücken. Zu welch beispielloser Grausamkeit war der Großvater der Verhafteten und ihres Bruders nur fähig gewesen? Er hatte reihenweise Kinder und Erwachsene getötet-vorwiegend Juden und ganze Zigeunersippen, schreckliche, schmerzhafte medizinische Versuche mit ihnen angestellt und sie dabei menschenverachtend noch als „meine Meerschweinchen“ bezeichnet. Dem Ganzen hatte er den Deckmantel medizinischer Forschung umgehängt und gerade seine Erkenntnisse und Theorien zur Irisheterochromie und zu Noma-dem sogenannten Wasserkrebs, hatten fast zwanghafte Züge gehabt. Er selber hatte wohl gleichfarbige dunkelbraune Augen besessen, aber sowohl Maria, als auch ihre Mutter und Großmutter wiesen dieses Merkmal der verschiedenen Irisfarben auf. Allerdings hatte er seine südamerikanische Frau wohl erst nach dem zweiten Weltkrieg kennen gelernt, als er 1949 über die sogenannten Rattenlinien nach Buenos Aires mit der North King geflohen war. Seine Ehe in Deutschland hatte seine Ehefrau annullieren lassen, aber sein Sohn Rolf hatte wohl bis zu Mengele´s Tod durch Ertrinken nach einem Schlaganfall beim Schwimmen im Meer 1979, mit ihm Kontakt gehalten und kannte vermutlich auch Maria und Elias Gregor und deren Mutter, seine Halbschwester. Es lag eine Heiratsurkunde von 1950 unter dem falschen Namen Helmut Gregor mit einer Anna de Fuentes aus Argentinien unter dem Peronregime vor, das musste Maria´s Großmutter gewesen sein. Die Aufzeichnungen würden ihn noch einige Tage beschäftigen, aber Hartmut dachte nicht daran, jetzt Feierabend zu machen-wenn seine Gerätschaften liefen, war die KTU sein Zuhause und notfalls würde er dort auch auf einer Isomatte unterm Schreibtisch übernachten.
Sarah war vom Aufwachraum auf die Unfallstation verlegt worden. Man hatte ihr ein Einzelzimmer zukommen lassen, sozusagen ein Service des Hauses an seine Mitarbeiter. Kaum waren die Aufnahmeformalitäten erledigt, die Infusion abgestöpselt und die Schwester hatte das Zimmer verlassen, da schlüpfte Sarah aus dem Bett und holte unter merkwürdigen Verrenkungen ihre Jeans , die Schuhe und die Unterkleidung aus dem Schrank. Das blutige Oberteil hatte man aufgeschnitten und weg geworfen, aber als Blusenersatz würde das Krankenhaushemd schon gehen, der Arm steckte sowieso in einem straffen Verband, der ihn vor ihrer Brust festhielt und die Drainage war auch noch da. Mühsam zog Sarah sich an und versuchte zu ignorieren, dass es sie jetzt schon drehte-sie musste doch zu Ben! Als sie dann aber aufstand und Richtung Tür lief, ging es so schnell, dass sie nicht mehr rechtzeitig zurück wanken konnte. Eine junge Pflegeschülerin, die gerade an ihrer Zimmertür vorbei lief, hörte den Schlag und als Sarah wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett, der Stationsarzt und zwei Kolleginnen beugten sich über sie, ihr Blutdruck wurde gemessen und sie bekam eine gehörige Standpauke. „Sei froh, dass du dir nicht noch mehr getan hast-wie kann man nur so unvernünftig sein! Ich möchte nicht wissen, wie oft du selber deinen Patienten gepredigt hast, nach einer Operation zum ersten Mal nicht alleine auf zu stehen. Du bleibst jetzt liegen und wenn du zur Toilette musst, läutest du bitte. Auf der Intensiv, wo du wahrscheinlich hin wolltest, haben sie selber genügend Arbeit-wie wir auch, da brauchst du den Kollegen wirklich nicht noch mehr machen. Warte einfach ab-bis morgen früh hat sich dein Kreislauf vermutlich beruhigt und ansonsten kann dich vielleicht jemand vom Fahrdienst im Rollstuhl zu deinem Mann bringen. Aber jetzt ist deine eigene Gesundheit einfach wichtiger, du kannst für deinen Angehörigen sowieso nichts machen. Du kannst später mal auf deiner Station anrufen-dein Handy hast du ja und bei uns funktioniert das auch mit dem mobil Telefonieren, wir haben keine abgeschirmten Wände wie ihr auf der Intensivstation. Jetzt ruh dich aus, trink und iss erst mal was-wir bringen dir gleich das Abendessen und wir hoffen, du machst nicht gleich wieder Blödsinn!“, schärfte ihr die ältere Kollegin ein und der Stationsarzt konnte sich im Hinausgehen ein Schmunzeln nicht verkneifen, es war alles gesagt. Sarah presste ein „Entschuldigung!“, hervor und ließ sich unglücklich in ihre Kissen zurück sinken. Es stimmte ja-sie war wohl keine gute Patientin!
Auf der Intensivstation hatte Andy inzwischen den Stationsarzt über seine Beobachtung informiert. „Ich schau mir das gleich an!“, versprach der und teilte dem Pfleger noch mündlich mit, zu welcher Therapieempfehlung die Antibiotikakonferenz gekommen war. Andy löste das verordnete Medikament sofort auf, steckte ein Infusionssystem an und trat wenig später gemeinsam mit dem Stationsarzt ins Zimmer, um bei der Untersuchung zu helfen. Ben schüttelte den Kopf, als der Stationsarzt, der bereits zwei Paar Einmalhandschuhe über gezogen hatte, ihn freundlich bat, sich seine Kehrseite anschauen zu dürfen. „Ich will meine Ruhe haben-jeder quält mich nur-ich dachte ich bin hier in einem Krankenhaus, dabei seid ihr nicht viel besser als meine Entführerin!“, weinte er beinahe und Semir und der Mediziner und der Pfleger sahen ihn betroffen an. Der Arme war wirklich mit den Nerven komplett am Ende!