Semir und Sarah saßen schweigend neben dem Bett. Jeder hielt eine Hand des Schwerkranken und immer wieder wuschen sie sein Gesicht und seinen Oberkörper mit kühlem Wasser ab, damit die Verdunstungskälte das Fieber senkte. Andy lagerte Ben zwischendurch, erneuerte die verschwitze Unterlage und brachte frische Eisbeutel. Nach zwei Stunden hängte Sarah einen Ablaufbeutel an die Ernährungssonde und atmete auf, als weder Blut noch die ganze verabreichte Flüssigkeit zurück kamen, sondern nur eine minimale Menge grünlicher Magensaft im Beutel landete. „Gott sei Dank-er verdaut und anscheinend ist das Zeug auch nicht so scharf, dass es die Schleimhaut schädigt!“, erklärte sie Semir den Grund ihrer jetzt wieder etwas besseren Stimmung, die allerdings immer noch von großer Sorge überschattet wurde.
„Weißt du-ich zerbreche mir die ganze Zeit den Kopf, was wir sonst noch machen könnten, aber mir ist klar, dass unsere ganzen behandelnden Ärzte, eingeschlossen der Chefarzt, das ebenfalls getan haben und ich kann seine Anweisung auch gut nach vollziehen. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich fühlen würde, wenn ich Ben mit diesem Zeug geschadet, oder ihn sogar umgebracht hätte. Eigentlich könnte sich in dieser Tüte auch ein Gift befinden und das ist bis jetzt noch nicht einmal ausgeschlossen. Mittel die schwere Organschäden verursachen, führen oft schleichend zum Tode und wenn wir nicht so verzweifelt mit dem Rücken zur Wand stehen würden, wäre ich dieses Risiko nie eingegangen. Aber ich habe auch überlegt, was Ben, wenn er dazu in der Lage wäre uns das mit zu teilen, wollen würde. Er war immer schon risikobereit und schert sich, wenn er es für richtig hält, auch nicht um Vorschriften. Frau Krüger kann da ein Klagelied davon singen, aber letztendlich ist es bis jetzt immer gut aus gegangen und ich würde mir ebenfalls mein Leben lang Vorwürfe machen, wenn er stirbt und ich habe nicht einmal versucht, ihm die Medizin zu geben“, endete sie ihre Rede und Semir hörte verständnisvoll zu.
„Sarah-ich denke auch, wir haben das Richtige getan. Ich war ja schon froh, dass auf seine Schreie, als wir die Sonde gelegt haben, niemand reagiert hat!“, bemerkte er und Sarah lächelte jetzt ein wenig. „Einmal war die geschlossene Tür wegen der Isolierung mal zu etwas nutze. Normalerweise ist das für uns Pflegekräfte eher erschwerend, weil wir alle Geräte vernetzen müssen, da wir von draußen ja keinen akustischen Alarm hören können. Aber die zweite Wahrheit ist-das Pflegepersonal steht überwiegend auf unserer Seite und meine Kollegin der Frühschicht hat das mit mir heute Mittag am Telefon regelrecht ausgemacht, wie wir verfahren könnten,“ berichtete sie und jetzt verstand Semir auch, warum der junge Pfleger, der die Magensonde doch bemerkt haben musste, nichts gesagt hatte.
„Aber was geschieht, wenn der Chefarzt diese Sonde sieht? Wird er nicht darauf bestehen, dass sie sofort entfernt wird?“, fragte er nun seine Freundin, aber die zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, was er tut oder sagt, aber Fakt ist-wir haben jetzt Freitagnachmittag. Die nächste Chefvisite findet wieder am Montagmorgen statt. Wenn natürlich irgendjemand den Chef darauf aufmerksam macht, dass wir hier sozusagen gegen seine Anordnung therapieren, gibt es richtig Ärger, aber wenn es Ben übers Wochenende vielleicht deutlich besser gehen sollte, wird man einfach davon ausgehen, dass die Antibiotika doch gewirkt haben und nicht weiter nachforschen“, begründete sie ihre Hoffnung.
„Ich könnte ansonsten auch vielleicht noch versuchen, Ben in eine andere Klinik verlegen zu lassen, die risikobereiter ist, aber in seinem Zustand würde ich ihn dadurch gefährden und so lange sie hier einfach die Augen zudrücken, werde ich gar nichts unternehmen,. Außerdem habe ich zwar eine von ihm unterschriebene Vorsorgevollmacht zuhause, in der wir beide-du und ich- als die Personen vorgesehen sind, die seine Sachen regeln sollen, wenn er selber dazu nicht in der Lage ist, aber die gilt noch nicht zu hundert Prozent-rechtlich muss erst ein Betreuungsverfahren eingeleitet werden und wenn der Schrieb des Amtsgerichts dann vorliegt, können wir in seinem Sinne für ihn rechtlich bindende Entscheidungen treffen. Außerdem denke ich-wenn das Fieber sinken sollte und es ihm nur ein wenig besser geht, kann er ja wieder mit uns und auch mit den Ärzten kommunizieren und selber sagen, was er möchte-er ist ja weder sediert noch hat er einen Schlag auf den Kopf gekriegt, sondern ist einfach im Moment zu krank, um für sich Verantwortung zu übernehmen!“, teilte sie ihre Gedanken mit und Semir nickte zustimmend mit dem Kopf.
In diesem Moment begann Ben sich erneut stöhnend in seinem Bett herum zu werfen und murmelte immer wieder: „Nein, nein, bitte nicht!“, und versuchte dabei seine Hände über seine doch zugedeckte Scham zu legen, soweit das mit den ganzen Kabeln möglich war. Sarah und Semir erfassten sofort, wo er sich gerade wähnte und streichelten ihn beruhigend, während sie ihm gut zu sprachen. Aber anders als erwartet, ließ er sich diesmal nicht beruhigen, sondern machte sich ganz steif und wandte sich von ihnen ab, entzog ihnen seine Hände und murmelte nur immer „Nein, nein, nein!“
Er befand sich in einem nicht enden wollenden Alptraum. Erst hatte ihn diese Frau betäubt und überwältigt und dann hatte er keine Chance mehr gehabt zu fliehen. Unendliche Schmerzen, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und doch war er gerettet worden. Wie Lichtblitze tauchten Gedankenfetzen durch sein Hirn, die Vergangenheit und die Gegenwart vermischten sich zu einem einzigen fiebrigen Durcheinander. Semir neben ihm, warmes Blut, das ihn benetzte, aber die Gewissheit, jetzt würde alles gut werden. Die Sorge um Sarah, fremde Hände, die an ihm herum manipulierten. Er wollte das nicht, wusste aber, er musste das zulassen, denn er war jetzt im Krankenhaus und die ganzen Ärzte und Schwestern machten nur ihre Arbeit um ihm zu helfen.
Lucky´s warme tröstende Zunge, die ihn ableckte, sein Winseln, das Piepsen der Geräte, alle Geräusche, dazu die murmelnden Stimmen um ihn herum vermischten sich zu einer Kakophonie der Laute, bis er wieder weg dämmerte und dann wach wurde, als Sarah´s und Semir´s Gesichter ganz nahe vor ihm waren. Ihm war schwindlig, seine Frau erklärte irgendwas, aber er war zu müde, um zu verstehen was sie sagte. Aber jetzt tat ihm wieder jemand Gewalt an und steckte einen weiteren Schlauch in ihn. War das Maria? Er konnte die Mienen nicht mehr erkennen, wehrte sich und riss den Schlauch aus seiner Nase, der ihn würgen ließ, heraus, er zitterte, schrie, aber erneut wurden seine Hände fest gebunden und ihm wurde Gewalt angetan. Er war jetzt ganz still, denn eine schreckliche Gewissheit ergriff von ihm Besitz: Sarah und Semir standen auf der anderen Seite und hatten sich mit Maria und allen verbündet, die ihm weh tun wollten. Sie waren es, die ihn quälten und als er wieder flach gestellt und seine Hände los gebunden wurden, gab er einfach auf. Er hatte keine Kraft mehr und auch wenn ihm eine tröstende Ohnmacht verwehrt blieb, verdrängte er die murmelnden Stimmen und es blieb nur eine einsame entsetzliche Leere-man hatte ihn verraten.