Semir steckte nun sofort die Waffe weg, drückte auf den Klingelknopf neben der Tür und brüllte, dass man es durch den ganzen Krankenhausflur hören konnte: „Schnell einen Arzt, nein besser ein Reateam auf 304!“, während er so rasch er konnte zu seinem Freund und dem Psychologen hetzte-leider fiel dann die Türe hinter ihm zu. Er zerrte Elias, der ja mindestens 130 kg auf die Waage brachte und mit seinem Gewicht den beiden zusätzlich noch die Luft abdrückte, von seinen Opfern herunter und registrierte voller Erleichterung, dass Philipp Schneider zwar nach seinem Hals griff, aber geräuschvoll die Luft ein sog und anscheinend nicht in akuter Lebensgefahr war.
Anders war es bei Ben. Der war immer noch kitzeblau und lag schlaff und reglos da. Semir versuchte gar nicht nach irgendeinem Puls zu tasten, durch die Aufregung würde er vermutlich nur seine eigenen Pulswellen in den Fingerspitzen fühlen, sondern ohne zu zögern, begann er, wie beim letzten Ersthelferkurs an der Puppe geübt, den Brustkorb seines Freundes dreißig Mal rhythmisch einzudrücken und ihm dann, ohne an irgendeine Ansteckung zu denken, den Kopf zu überstrecken und zweimal Luft ein zu blasen.
Kurz zuvor war der Arzt am Stationszimmer eingetroffen und hatte die aufgebrachte Frau beruhigt, die Sorge hatte, sich mit einem gefährlichen Keim infiziert zu haben. „Hören sie-natürlich war es dumm von unserem Patienten das Zimmer zu verlassen, aber der Keim ist wohl für einen Gesunden ohne offene Verletzungen wenig gefährlich. Wenn sie sich jetzt gründlich die Hände desinfizieren, zuhause mit einem desinfizierenden Schaum, den wir ihnen mit geben, duschen und ihre Kleidung heiß waschen, genügt das. Weil ihr Mann allerdings frisch operiert ist, sollten sie ihn lieber heute nicht besuchen, rufen sie ihn doch bitte an und wir informieren ihn ebenfalls. Es tut uns leid, wenn sie durch das Fehlverhalten eines unserer Patienten Unannehmlichkeiten hatten, aber leider können wir auch den nicht im Zimmer einsperren, sondern müssen eigentlich auf seine Kooperationsbereitschaft bauen-ich werde ihm gleich Bescheid sagen, dass das natürlich so nicht geht und er das Zimmer nicht zu verlassen hat, bis unsere Hygieneabteilung die Isolierung aufhebt“, beruhigte er die immer noch aufgebrachte Frau, zeigte ihr, wie sie ihre Hände desinfizieren sollte und drückte ihr noch eine Dose mit Desinfektionsschaum in die Hand.
Als sie um die Ecke verschwunden war, seufzte er auf und machte sich auf den Weg zu seinem neuen Patienten, den er noch gar nicht persönlich kennen gelernt hatte-nur die telefonische Übergabe hatte er erhalten. So wie ihm sein Kollege von der Intensiv geschildert hatte, war er erstaunt gewesen, dass Herr Jäger es in Anbetracht seiner Erkrankungen überhaupt geschafft hatte, das Zimmer zu verlassen. Er hatte sich, nachdem er von der Pflegekraft zu Hilfe gerufen worden war, erst Ben´s Akte angesehen, dann kurz mit dem Krankenhaushygieniker, der natürlich über den Fall Bescheid wusste, Rücksprache gehalten und hatte dessen Empfehlungen dann an die Besucherin weiter gegeben.
Gerade als er um die Ecke bog, die Sicht auf Zimmer 304 ermöglichte, ertönte erst ein Schuss und Sekunden später schrie eine Männerstimme laut nach einem Arzt und dem Reateam-verdammt was war hier los? Allerdings ging Eigenschutz auf jeden Fall vor und so zog er erst einmal sein Telefon heraus und verständigte den Sicherheitsdienst, während er um die Kurve in Deckung ging, wie mehrere geschockte Patienten und Besucher ebenfalls, die der laute Knall aufgeschreckt hatte. Der Leiter des Sicherheitsdienstes rief, als er von dem Schuss im dritten Stock hörte, sofort die Polizei und so kam es, dass zwar wenig später der Flur von Uniformierten nur so wimmelte, aber Semir in Zimmer 304 als Einzelkämpfer verzweifelt um das Leben seines Freundes rang.
Als mehrere rettende Atemstöße in dessen Lunge gedrungen waren, begann Ben sich zu regen und sog jetzt selber geräuschvoll und gierig die Luft ein, so weit das sein zu geschwollener Hals zu ließ. Voller Erleichterung registrierte Semir, dass der Dunkelhaarige noch am Leben war, aber als der jetzt plötzlich die Augen auf riss, um dann entsetzt vor ihm zurück zu weichen, gab es ihm einen schmerzhaften Stich ins Herz. Oh nein-hatte Ben denn immer noch nicht kapiert, dass er ihm nichts Böses wollte?
Philipp Schneider hatte sich inzwischen wieder so weit erholt, dass er einigermaßen normal reagieren konnte, wenngleich auch ihm der Schock noch in den Gliedern saß und das Atemholen durchaus mühsam war. Selten hatte er so eine Panik in den Augen eines Menschen gesehen, dabei hatte Herr Gerkhan seinem besten Freund vermutlich gerade das Leben gerettet und auch wenn man von draußen laute Geräusche hörte-bisher war niemand ihnen zu Hilfe gekommen. Anscheinend war der seelische Zustand seines Patienten genauso schlecht wie der seines Körpers und jetzt musste er eingreifen, um weiteren Schaden ab zu wehren. So zog er sanft den kleinen Türken beiseite, während er sich über Ben beugte und den ein wenig aufrichtete und ihm ein Kissen, das er rasch vom Bett riss, unter den Oberkörper schob, damit der besser Luft bekam. „Ben-ich bin es Philipp Schneider, bleib ruhig, gleich kommt professionelle Hilfe-niemand will dir mehr was Böses-der Mörder ist tot“, krächzte er und Ben´s verwirrter Blick erfasste nun die Leiche, die nur wenige Zentimeter von ihnen entfernt lag. Verdammt-Ben blutete, war körperlich und nervlich völlig am Ende, aber kein Mediziner ließ sich blicken.
„Herr Gerkhan-holen sie Hilfe“, bat er und Semir, der die Situation ebenfalls erfasst hatte, richtete sich nun auf und ging langsam zur Türe. Mit jedem Meter, den er sich von seinem besten Freund entfernte, wurde der weniger panisch und spürte wohl jetzt erst die Schmerzen, die ihm neben der Atemnot schwer zu schaffen machten.
Semir schlich mit hängenden Schultern regelrecht weg-oh nein-Ben hielt ihn immer noch für seinen größten Feind-ob man seine Paranoia jemals wieder in Griff bekam? Ohne daran zu denken, dass er von oben bis unten mit Blut besudelt war, öffnete er die Zimmertüre und hatte Sekunden später den Lauf einer Waffe am Kopf, die Hände im Polizeigriff auf dem Rücken und jemand hatte ihm auch schon die Waffe aus dem Holster gezogen. „Verdammt noch mal-was zieht ihr hier für eine Nummer ab-ich bin Polizist-Semir Gerkhan, mein Dienstausweis steckt in meiner Gesäßtasche-schickt lieber einen Arzt zu den Opfern!“, brüllte er ungehalten und jetzt erkannten die beiden uniformierten Kollegen ihn-gerade vorhin erst hatte er sich bei ihnen am Taxistand ausgewiesen. „Kollege was ist da drinnen los, wer hat geschossen und wo kommt das ganze Blut her?“, löcherte der Streifenpolizist ihn mit Fragen und mit wenigen Worten erklärte Semir die Situation. Man ließ ihn los, nur die Waffe tütete man routiniert für die kriminaltechnische Untersuchung ein, was ja auch völlig richtig war und jetzt endlich öffnete ein Sicherheitsbeamter die Tür komplett und überzeugte sich von der Richtigkeit von Semir´s Angaben.
„Hier wird wirklich dringend ein Arzt gebraucht-und die Kripo und die Spurensicherung!“, bemerkte er dann und so füllte sich wenig später das Zimmer mit medizinischem Personal, das sich allerdings zum Eigenschutz erst mit Isolierkitteln, Haube, Mundschutz und Handschuhen vermummte.