Rastplatz - 03:00 Uhr
Es war beinahe eine romantische Stimmung auf dem Rastplatz, nahe der Autobahn. Es war still, die Nacht war klar und herrlich mild, als wäre es schon Hochsommer. Dabei war es erst Mitte Mai, eine Zeit in der man sogar hin und wieder noch mit Bodenfrost rechnen musste. Doch keiner der Polizisten der Autobahndienststelle musste bei diesem Einsatz lange Unterhosen tragen. Nur schusssichere Westen waren vorgeschrieben. Sie hatten sich verteilt positioniert, allesamt in Zivilfahrzeugen im Schutze der Dunkelheit. Das MEK war einsatzbereit, die Handys der Verdächtigen geordet. Hartmut saß auf dem Rücksitz von Semirs BMW und fragte im Minutentakt die aktuelle Funkzelle ab, in der das Handy eingeloggt war, während die beiden Polizisten mit Argusaugen den beleuchteten Parkplatz beobachteten.
Kevin und Jenny im zweiten Fahrzeug standen auf der anderen Seite des Rastplatzes, uneinsehbar und versteckt zwischen geparkten LKWs. Sie würden genau sehen, wenn sich ein Fahrzeug nähern würde und in den unbeleuchteten Teil des Rastplatzes einbog. Hotte und Dieter, sowie einige Einsatzkräfte des MEKs hatten den restlichen Platz im Auge, sowie einen Teil des angrenzenden Waldes, um mögliche Fluchtwege abzuschneiden, oder zu sehen, falls die Verdächtigen sogar aus dem Waldstück zu Fuß kamen.
Drei Wochen war es jetzt her, seit Kevin und Jenny im Büro zum ersten Mal aufeinander getroffen waren. Der junge Polizist wusste bei der Rückkehr aus England noch nichts von seiner neuen Partnerin, und als er ins Großraumbüro trat und durch die Glasscheibe Jenny gegenüber seines Platzes sitzen sah, blieb er erst mal wie vom Blitz getroffen stehen. Semir und Ben sahen ihren Kollegen nur von hinten, und konnten seinen Gesichtsausdruck nicht sehen... Ben sagte scherzhaft, er würde auf eine Woche Schokocroissants verzichten, wenn er in diesem Moment Kevins Gedanken hätte lesen können. "Dann muss es dich aber schon verdammt interessieren...", war Semirs sarkastische Antwort.
Zögernd, wie ein misstrauischer Kater im fremden Terrain tastete sich Kevin in sein Büro, ohne einen unfreundlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Er war eher... nichtssagend. So wie immer. Er wusste auch nicht, ob er von der Überraschung jetzt positiv oder negativ berührt war. Es war eher ein Gefühl dazwischen. Ein Ausschlag nach oben und unten gleichzeitig. Wie eine Schaukel, die gerade wenn sie ganz oben war sofort wieder im Begriff war, zu fallen. Er freute sich, dass es Jenny gut ging, dass sie lächelte als er sie begrüßte, dass die Kälte in ihren Augen verschwunden war, mit der sie ihn noch vor einigen Wochen mit den letzten Worten "Es gibt kein Kind mehr." abwies. Die kurze Umarmung, ein Küsschen auf die Wange, nichts was irgendwas bedeuten würde... ja, da war das positive Gefühl. Doch das negative beschlich ihn dann langsam, je länger sie miteinander sprachen. Konnte das gutgehen, eine Zusammenarbeit? Nachdem was zwischen ihnen passiert war? Was noch zwischen ihnen stand? Und was war mit seinen Gefühlen Jenny gegenüber? Über die, die Jenny noch für ihn hatte, wusste er ja nicht Bescheid.
"Was machst du denn hier?", fragte er ehrlich überrascht. Dass sie wieder hier arbeitete war unverkennbar, denn sie hatte sich auf ihrem Schreibtisch mittlerweile schon eingerichtet. Aktenordner, ihre Tasse, einige private Kritzeleien auf der Tastaturunterlage. Aber das "Warum" und "Weshalb" enthielt Kevins Frage natürlich auch. "Ich wollte wieder nach Hause.", war Jennys ehrliche Antwort, und mit einem Lächeln versehen, die genaueres Nachfragen für Kevin unnötig machten. Natürlich hatte es mit den Vorkommnissen in Hamburg zu tun. Natürlich mit Timos Tod, vor dem sie genauso floh, wie sie vor Kevins Tod und der Erinnerung hier geflohen war. Es waren, bis auf die Freude über das Heimatgefühl, keine schönen Gründe. Und weil der junge Polizist Jennys Stimmungshoch nicht nur spüren, sondern auch sehen konnte, und er selbst sich nach zwei Wochen bei Annie ebenfalls gut fühlte, so wollte er die Gründe nicht ansprechen. Gelegenheit, nochmal über unschöne Dinge zu sprechen, würden sie bestimmt haben... irgendwann.
"Wie war es in England? Wo warst du überhaupt genau?" Kevin setzte sich an seinen Schreibtisch und begann, in gewohnt knappen und kurzen Sätzen, zu erzählen. Von den tollen Küsten in Cornwall, den weiten grünen Wiesen und den schönen Straßen die man mit einem gemieteten Motorrad herrlich erkunden konnte. Er erwähnte Annie mit keiner Silbe... warum auch? Jenny hatte klipp und klar gesagt, dass es zwischen ihnen vorbei war, unabhängig derer Gefühle, die die beiden noch hegten. Und was zwischen ihm und Annie in diesen zwei Wochen geschehen war, war für seine Gefühle zu seiner jungen Kollegin nicht von Belang.
Das Experiment der Chefin schien, gegen jede Skepsis ihrer Mitarbeiter, zu funktionieren. Jenny schaffte es, alle negativen Gefühle und Erinnerungen, die sie an den Vorfall in Hamburg hatte, zu unterdrücken. Sie war einfach froh, wieder zu arbeiten, so zu arbeiten wie in Hamburg, nur diesmal im Kreise ihrer "Familie." Und sie war Kevin dankbar, dass dieser es ihr so leicht wie möglich machte. Er sprach sie nicht auf das kalte Gespräch vor ihrer Wohnung an, er sprach sie nicht auf Timo oder das Baby an... er beschränkte sich auf die Arbeit. Natürlich redeten sie auch mal über Privates, (dass Jenny im Park beim Joggen von einem Regenschauer überrascht wurde zum Beispiel) aber das blieb völlig an der Oberfläche. Es war nichts zu spüren von Freundschaft, wie sie zwischen Semir und Ben herrschte, aber sie schafften es kollegial zusammen zu arbeiten.
Das Gleiche schaffte Kevin auch mit Semir und Ben, genauso wie vor der Schul-Geiselnahme. Mit dem jungen Kommissar, obwohl der am ehesten von dem Gedächtnisausfall seines Partners zu leiden hatte, deutete sich sogar wieder so etwas wie eine Freundschaft an. Zumindest drängte er den schweigsamen Kollegen dazu, mal die Gitarre mit ins Büro zu nehmen um nach Feierabend bei einem Bierchen einfach nur ein bisschen Musik zu machen. Ben wusste ja, dass Kevin momentan wieder alleine bei Kalle lebte, und er erinnerte sich dass vor allem die gemeinsame Musik damals das erste Eis zwischen ihnen brach. Und was schon mal klappte, kann auch wieder funktionieren. Gegenüber Semir hatte der Polizist immer noch den ungeheuerlichen Verdacht gegen sich im Hinterkopf, den er eher zufälligerweise mitbekommen hatte. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, mit Misstrauen zu reagieren, verdrängte er es. Ja, er hatte sogar Verständnis für Semirs Gedanken, wenn er sich in dessen Lage hineinversetzte. Er würde ihn darauf ansprechen... irgendwann. Wenn es passte. Wenn sie wieder näher zusammengerückt waren.
Das junge Team hatte den ersten Fall auf dem Tisch, und in dieser Nacht sollte ein großer Schritt getan werden. Bei einem Tankstellenüberfall wurde der Kassierer angeschossen, und dank des beherzten Eingriffs eines Kunden, der zufällig Lehrer einer Schule für Selbstverteidigung war, konnte zumindest die Waffe des Räubers sichergestellt werden. Der Tankstellenraub war deshalb, und auch aufgrund der Überwachungskameras, schnell aufgeklärt, doch durch die Aussagen des Räubers, der seine Situation verbessern wollte, kamen Kevin und Jenny, mittlerweile mit Semirs und Bens Unterstützung, einer Gruppe Waffenschieber auf die Spur. Durch viel Polizeiarbeit, einigen Handy-Überwachungen und Kevins Kontakten war man der Gruppe einen Schritt voraus. Heute sollte hier ein Deal stattfinden.
Jenny schüttete sich aus einer Thermoskanne heißen Kaffee ein, pustete und nahm einen Schluck. Dabei blickte sie kurz auf ihren Nebenmann. "Ich kann mich an meine letzte Observation mit Festnahme erinnern.", sagte sie lächelnd. "Du auch?" Sie spielte darauf an, dass sie dabei war als Kevin bei einem, von der Drogenfahndung fingierten Deal erwischt wurde. Der große Polizist nickte: "Ich kann dir versichern, dass derjenige heute nicht verhaftet wird, und sich von dir auch kein blaues Auge einfängt.", meinte er mit seiner monotonen Stimmlage. "Das Veilchen war Hotte. Eigentlich war es die Autotür.", widersprach Jenny. "Cobra 11 Team 1 für Team 2... alles klar bei euch?", knarzte Bens Stimme aus dem Funkgerät. Jenny antwortete: "Wir könnten Decken und Kissen gebrauchen, wenn das noch länger dauert.", sagte sie ganz ohne Hintergedanke. Ben's saloppes: "Ach, so weit sind die schon wieder?" zu Semir konnten die beiden nicht hören.