Dienststelle - 7:45 Uhr
Semir hatte bereits Kaffee aufgesetzt, als seine beiden jungen Kollegen ins Großraumbüro traten. Jenny sah aus wie ein junger frischer Morgen, doch Kevin machte einen ziemlich übernächtigten Eindruck. Ging die Nummer in Anis Bar so lange gestern abend, dass er zu so wenig Schlaf gekommen war? Der erfahrene Polizist war gespannt wie ein Flitzebogen, ob sich etwas Entscheidendes gestern Abend ereignet hatte. Die drei begrüßten sich bei Andrea's Tisch, auch Hotte und Bonrath, die in kurzärmeligen Hemden am Schreibtisch saßen, wurden begrüßt. Der dicke Polizist litt am meisten unter dem warmen Wetter und hätte die Uniform gerne gegen Shorts und Shirt getauscht. Doch jetzt mussten die beiden los - ein Unfall mit mehreren Fahrzeugen im Berufsverkehr. Jenny sah den beiden nach und war froh, den Streifendienst hinter sich gelassen zu haben.
Ben ließ, wie immer auf sich warten. Seit er mit Carina zusammen war, die scheinbar einen überaus pünktlichen Charakter zu haben schien, war er öfters mal vor 8 Uhr im Büro. Doch wehe, Carina hatte frei... dann konnte der ewige Junggeselle sich nicht von ihr, oder dem Bett... Semir vermutete beides... befreien. Wäre seine Arbeit nicht so überaus wichtig für die Cobra 11 - Dienststelle - die Chefin hätte ihm wohl schon mehr Druck gemacht, als ständiges Ermahnen. So hoffte der Zu-Spät-Kommer immer wieder, gerade ins Büro zu schlüpfen, wenn die Chefin gerade in einem wichtigen Telefonat war, oder unterwegs.
Um viertel nach 8 war es dann soweit, und der Polizist mit der Wuschelfrisur traf lächelnd, grüßend im Büro ein. Ein kurzer Blick ins leere Büro ihrer Vorgesetztin... Glück gehabt. Man versammelte sich im Büro von Semir und Ben. "Na, dann erzähl mal, wie ist es gestern gelaufen?", fragte Semir voll Neugier, nachdem er viermal Kaffee eingeschenkt hatte und sich an seinen Schreibtisch gesetzt hatte. Kevin lehnte an der Glaswand, die das Büro abtrennte. "Eigentlich wie erwartet. Der Kommissar, der das Charmin bisher beobachtett hat, war scheinbar geschmiert. Zufälligerweise gingen Bienert mehrere bekannte und unbekannte Gesichter ins Netz, die die Hinterräume der Bar betreten hatten. Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass eben jener Polizist Schlappner wusste, dass ich bei meinem Vater in der Bar bin, zu einem Gespräch ging und er in dem Moment die Bilder machen konnte. Dafür hatte er extra mit einem Kollegen getauscht.", erzählte der, sonst so wortkarge Polizist. "Anis hat also versucht, mich reinzulegen. Er wollte mir sicher nichts anhängen, weil er dann sein Ziel nicht erreichen kann... aber er wollte wohl Stärke demonstrieren. Zu was er fähig ist." Semir nahm einen heißen Schluck Kaffee und nickte stumm. Ben sagte: "Aber er kennt dich doch von früher. Er muss doch wissen, dass sowas bei dir nicht fruchtet." Sein Partner mit der Stachelfrisur zuckte mit den Schultern: "Menschen ändern sich. Er hat ja auch gedacht, dass er über meinen Vater an mich herankommt."
Ein kurzes Schweigen füllte das Büro, bis Jenny sich zu Wort meldete: "Egal wie er es als Nächstes versucht... er wird es weiter probieren, denke ich. Oder aber, der Einbruch hat sich für ihn gelohnt." Kevins Blick haftete bereits nach den ersten Silben auf Jennys Blick, und er hätte die Frau stundenlang anschauen können. "Das glaube ich nicht.", meinte er ohne den Blick von Jenny abzuwenden. "Er hat mich gestern abend noch einmal angesprochen. Hat klar auf die Durchsuchung bei mir hingewiesen. Er klang ganz und gar nicht so, als würde er mich nicht mehr brauchen." In ihm drin arbeitete es. Er wollte ehrlich sein, nichts verschweigen. Oder zumindest nicht vorsätzlich lügen. Er wollte nicht sagen, dass er Anis provozierte. "Und was hast du gesagt?", fragte Ben neugierig und sah den jungen Beamten mit festem Blick an.
Die Blicke begegneten sich. "Ich hab ihm gesagt, dass er die Sache besser vergessen soll. Ansonsten drehe ich den Spieß um." Seine Stimme klang kalt und Semirs Stirn legte sich in Falten. "Wie meinst du das?" "Er wird heute keinen ruhigen Morgen verleben, wenn Bienert erste Zivilbeamte zu den Verdächtigen schickt, so wie bei mich. Wenn er merkt, dass ich mich wehre, wird er Fehler machen." Drei Augenpaare waren auf den jungen Beamten gerichtet. "Das ist aber ein ziemliches Spiel mit dem Feuer, Kevin."
Als hätte Semir einen wunden Punkt getroffen, blickte der junge Polizist zu Boden. "Ich weiß.", sagte er beinahe schuldbewusst. Und er kam zu einem Punkt, an dem er nicht lügen konnte, an dem er nicht mal verheimlichen konnte. Er würde es nicht überleben, wenn Jenny etwas passierte, weil er seinen Kollegen nichts gesagt hat. Er konnte ja nicht 24 Stunden am Tag auf sie aufpassen. "Er... er hat mir indirekt gedroht." Dabei sah er zu Jenny, die etwas blass um die Nase wurde, was nur Kevin bemerkte. Ansonsten ließ sich die sonst taffe Polizistin nichts anmerken. "Wie indirekt?", hakte Semir nach und Kevin wiederholte die, ihm gut bekannte Liedzeile. "Wenn du dich mir nicht ergibst, dann töte ich das was du liebst."
Nun richteten sich auf die Augen von Semir und Ben auf Jenny, der die Blicke etwas unangenehm waren. "Damit... muss ja nicht unbedingt ich gemeint sein.", meinte sie etwas unsicher, wusste sie doch nicht wieviel Anis über Kevins Privatleben wusste, vor allem nicht von deren letzten Entwicklungen. "Damit kann ja auch Kalle gemeint sein. Oder ihr beide... "Liebe" im übertragenen Sinne auf alle Menschen, die Kevin wichtig sind. Oder Annie...", versuchte sie sich selbst aus der Schusslinie zu reden. Dann blieb ihr Blick auf Kevin haften: "Du warst nicht rein zufällig heute Morgen vor meiner Tür, oder? Wie lange standest du schon da?", fragte sie und sie wusste, dass Kevin sie nicht anlügen würde. "Ich bin direkt, nachdem ich aus dem Charmin gegangen bin zu dir gefahren. Das war so gegen halb zwei."
Ben schluckte und beobachtete, wie sich Kevin und Jenny ansah. Er konnte den Kampf in Jenny, zwischen Rührung und Empörung beinahe spüren. Rührung darüber, dass Kevin sich sorgte und auf sie aufpasste... und dass er sofort an sie dachte, als Anis von deren Menschen sprach, die Kevin liebte. Empörung, dass er heute morgen zumindest nicht ganz ehrlich war... oder vielleicht auch, dass er sie nicht Nachts um halb zwei aus dem Bett geklingelt hat. Er wollte nicht abwarten, bis Jenny ihr zweites Gefühl nach außen trug, denn das hatte der junge Polizist nicht verdient. "Du weißt schon, dass das nicht so clever war... die Drohung, meine ich.", sagte er zu Kevin. "Vielleicht. Auf der anderen Seite zeigt es mir, dass Anis unter Druck steht. Und wer unter Druck steht, der macht Fehler."
Das Telefon klingelte. Semirs Apparat zeigte auf dem Bildschirm die Nummer der KTU an... Hartmut war mit Ergebnissen dran. Er schaltete den Lautsprecher ein. "Einstein, was gibts?", begrüßte Semir den rothaarigen Super-Techniker. "Ich hab die Chemikalien mal zusammen getragen. Ziemlich heißes Zeug.", begann Hartmut nach der Begrüßung und wollte einen Vortrag beginnen über Chemikalien, deren Namen die vier Polizisten wahrscheinlich nicht mal unfallfrei schreiben konnten. "Hartmut, auf Deutsch wenns geht.", schnarrte Ben in das Mikrofon.
"Also, man kann aus dem Zeug schon so etwas wie eine Droge herstellen... allerdings ist das nicht leicht. Daraus kann ein ziemlich betörender, abhängig machender Stoff entstehen, der die Wirkung von Heroin bei weitem übersteigt. Macht man bei der Herstellung aber Fehler, kann man genauso gut ein absolutes Teufelszeug brauen, was nichts mehr mit einem Trip zu tun hat. Ich hab da mal von einer Drogenlegende gehört, die...", doch weiter kam er nicht. Kevin fiel ihm ins Wort. "Valkyr." "Ja genau... hast du davon gehört?", fragte Hartmut erstaunt. Diesmal war es der junge Polizist, der Hartmut ins Staunen versetzte. Die Droge gab es wirklich, getestet an Obdachlosen und hilflos dahinvegetierenden Drogenjunkies. Im Ragnarök, das vor ein paar Tagen ausgehoben wurde. "Mittlerweile ist die Droge also tatsächlich mehr eine Legende.", schloß er die Erzählung ab, auch wenn es bestimmt noch eine gewisse Dunkelziffer von dem Teufelszeug gab. "Für mich sieht das eventuell nach einer Weiterentwicklung dieses Valkyrs aus. Es ist weitaus günstiger herzustellen als Heroin, aber deutlich härter in der Wirkung. Wer den Schlüssel gefunden hat, dieses Valkyr richtig herzustellen, hat im Drogengeschäft die Lizenz zum Gelddrucken.", ertönte Hartmuts Stimme aus dem Hörer.
"Diejenigen, die das schlechte Zeug genommen hatten im Ragnarök... die haben uns ohne Vorwarnung angegriffen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Vielleicht ist das auch das Ziel.", sagte Ben plötzlich und wurde von allen dreien, die um das Telefon herum saßen oder standen, angesehen. "Wie meinst du das?", fragte Kevin. "Keine Droge... ein Kampfstoff, um jegliche Empathie, menschliches Gefühl und Moral auszuschalten. Wenn das unkontrolliert bei der ersten Variante des Valkyrs möglich war, könnte es doch bei der zweiten Variante ansatzweise kontrolliert werden. Manche Diktatoren oder Kartellbosse würden für so etwas ein Vermögen bezahlen, um Armeen in der Hinsicht zu... verstärken.", wobei er das letzte Wort mit einer Geste in Anführungszeichen setzte. "Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?", meinte Semir und wackelte mit dem Kopf. "Nicht so weit, wie ihr denkt. Zumindest einige der Stoffe in hoher Dosis bewirken genau das, was Ben beschreibt... und was ihr scheinbar in diesem Ragnarök erlebt habt.", erklang wieder Hartmuts Stimme. "Ihr müsst an die Aufzeichnungen ran, die aus dem Haus entwendet wurden... dann kann ich sicher sagen, ob man hier einfach eine neue, brutale Droge herstellen wil, oder sogar mehr dahinter steckt..."