Nicole sah ihre Mutter flehend an. „Mama, das ist doch nur ein Konzert! Mehr ist das nicht! Es geht doch nur um die Musik! Gina geht auch hin und die ist erst 13!“ flehte sie inständig. Leonie Bauer legte den Kochlöffel zur Seite und sah sie an. „Du bist nicht Gina! Du bist meine Tochter und wirst zu keinem Konzert gehen, wo Drogen und Alkohol an der Tagesordnung stehen! Beim Summerdale sind Drogensüchtige, Dealer, Zuhälter, Vergewaltiger und andere Verbrecher! Das ist zu gefährlich! Du wirst mir für das Verbot, eines Tages noch dankbar sein.“ lehnte sie wiederholt ab. „Das ist doch gar nicht wahr! Du willst mir alles verderben! Ich habe überhaupt keine Freude mehr im Leben! Die machen da geile Party mit Supermucke! Ein Wochenende im Zelt wie auch im letzten Jahr! Da durfte ich auch ins Zeltlager!“ stellte Nicole wütend dagegen. Leonie nickte. „Richtig, letztes Jahr war es ein Zeltlager der Pfadfinder und nicht der Drogensüchtigen. Dort gab es keinen Alkohol und keine Drogen. Wenn du dahin möchtest, dann melde ich dich dort an, aber Summerdale ist nicht drin! Meine Eltern hätten mich auch nicht zu so einer Veranstaltung gehen lassen.“ Nicole schnaubte wütend. „Das ist unfair! Ich kann nichts dafür, dass deine Jugend so extrem langweilig verlaufen ist! Ich, aber will was erleben! Ich will kein Spießerleben führen! Bitte Mama, bitte!“ flehte sie erneut. „Nein! Und das ist mein letztes Wort!“ gab Leonie bestimmt von sich. „Du weißt genau, dass dein Vater und ich nicht wollen, das du zu so einem Konzert gehst! Du kennst unsere Gründe!“ Nicole stampfte wütend mit dem Fuß auf und ließ sich auf den Stuhl fallen. „Ihr seid so gemein!!! Nur weil ich nicht so sein will wie ihr, legt ihr mir alle Verbote der Welt auf! Nur weil ihr so frustriert seid! Ich will dahin!“ schrie sie und fegte mit der Hand eine Tasse vom Tisch. „Du kannst tun, was du willst, wenn du erwachsen bist. Aber das bist du noch nicht! Du bist erst 14!“ gab Leonie in einem harschen Ton zurück. Ihre Tochter verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Sie legte provokant die Füße auf den gedeckten Tisch. Leonie sah sie zunächst sprachlos an und packte dann die Beine, um sie vom Tisch zu ziehen. „Hast du den Verstand verloren?“ fragte sie wütend. Nicole stand auf und hob die Hand. Für ein paar Sekunden stand sie vor ihrer Mutter und überlegte, was sie nun tun sollte, doch dann ließ sie die Hand fallen. Leonie sah ihre Tochter erschrocken an, hob die Hand und zeigte auf die Treppe ins Obergeschoss. „Geh sofort auf dein Zimmer und wage es nicht rauszukommen, bevor dein Vater da ist!“ warnte sie in einem leisen Ton. „Ich hasse dich!!“ schrie Nicole, nahm ihre Strickjacke und verließ mit stampfenden Schritten die Küche. Leonie sah ihr nach. Als die Tür von Nicoles Zimmer zuknallte, zuckte sie zusammen. Sie setzte sich und stöhnte leise auf. Seit einem Jahr war Nicole unausstehlich und tat ihr absichtlich mit Worten weh. Leonie wischte eine Träne weg. Sie nahm ihre Tochter in Gedanken in Schutz. Die Pubertät war nicht einfach und sie wusste genau, dass dies eine harte Zeit war. Leonie nahm das Bild von der Kommode, das Nicole im Alter von sechs Jahren zeigte. Sanft strich sie über das Bild. Damals war sie noch so ein braves Mädchen. Und jetzt? Jetzt war das Verhältnis zwischen ihr und Nicole schwierig. Leonie wollte es nicht eingestehen, aber sie kam mit diesem Verhalten nicht zu Recht. Ihre Tochter war aufmüpfig, mit sich selbst unzufrieden und unglaublich aggressiv. Sie versank in Gedanken und suchte nach einer Lösung, wie sie ihre Tochter wieder für sich gewinnen konnte, doch ihr fiel kein Weg ein.
Nicole knallte die Tür von ihrem Zimmer so heftig zu, dass sie selbst erschrak und warf sich wütend auf ihr Bett. Was dachte ihre Mutter sich eigentlich? Wer war sie denn? Nicole war sicher, dass sie alt genug war, um auf sich selbst aufzupassen und sich wehren konnte, wenn es notwendig war. Egal was ihre Mutter sagte. Dieses Verbot galt nicht für Nicole. Sie hatte sich fest vorgenommen am Festival teilzunehmen, Party zu machen und Alkohol zu trinken. An diesem Wochenende würde sie viel Spaß haben. Nach einigen Minuten setzte sie sich hin und wischte die Wuttränen weg. In Gedanken suchte sie nach einem Ausweg. Sie musste hier weg! Solange sie bei den Eltern war, würde sie keine Freiheiten genießen können, die sie für ihre Entwicklung brauchte. Suchend sah sie sich um. Ihr Blick blieb an ihrem Sparschwein hängen. Das war es! Sie hatte in den letzten Monaten ihr Taschengeld gespart, um das Festival zu besuchen. Entschlossen nahm sie das Sparschwein und warf es mit einer heftigen Bewegung zu Boden. Es zersprang in tausend Stücke. Nicole hockte sich hin und suchte das Geld vorsichtig heraus. Für den Eintritt zum Festival brauchte sie knappe 100 Euro. Darin waren die Kosten für den Zeltplatz schon drin. Nur für das Essen musste sie auf dem Festival selbst aufkommen, aber was braucht sie schon. Sie zählte das Geld und lachte leise auf. Sie hatte ganze 170 Euro gespart, abzüglich dem Eintritt blieben ihr noch 70 Euro und damit konnte sie eine Weile ohne die Eltern leben. Und was danach passierte, musste sie sehen. Eines war sicher, hierher würde sie nie zurückkehren. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass die Zeit drängte. Wenn sie von hier wegwollte, dann musste es passieren bevor ihr Vater kam. Aber wenn sie das Haus auf dem normalen Weg verlassen würde, dann musste sie an der Küche vorbei und ihre Mutter würde sie garantiert daran hindern. Sie brauchte einen anderen Weg. Der Balkon! Ja, das war es! Sie konnte über den Balkon raus. Sie wusste, dass das Klettergerüst von dem Efeu direkt am Balkon endete und wenn sie es clever genug anstellte, konnte sie daran runterklettern. Schnell wurden ein paar Sachen eingepackt und der Rucksack umgeschnallt. Noch einmal sah sie in ihr Zimmer und amtete tief durch. Sie kletterte über das Geländer und hangelte sich an dem Gerüst runter. Alles ging gut und sie landete wenig später im Garten. Als sie durch das Fenster ins Haus sah, sah sie ihren Vater gerade reinkommen. Jetzt musste sie schleunigst sehen, dass sie hier verschwand. Sie rannte die Straße runter zur nahe gelegenen Bushaltestelle und hatte Glück, denn der Bus bog gerade um die Ecke. Sie stieg ein und löste ein Ticket. Ihr nächstes Ziel war der Hauptbahnhof und von dort aus nach Düsseldorf. Wenn sie Glück hatte, konnte sie für eine kurze Zeit bei ihm, ihren Onkel, wohnen.