Vor der Dienststelle - 15:50 Uhr
Semir war gerade an das Dienstgebäude herangefahren und hatte den BMW abgestellt, als er Kevin an den Blumenkübeln vor dem Eingang erblickte. Es war quasi sein Stammplatz, daneben stand ein Aschenbecher, denn im Gebäude war Rauchverbot. Er hatte das Handy am Ohr, auf der anderen Seite hatte er sich eine Zigarette hinters Ohr geklemmt. Als Semir näher kam, konnte er einige Worte mithören, und er blieb in der Nähe stehen. Er merkte sofort dass Kevin mit Ben redete, dass das Gespräch positiv war und er hörte vor allem, dass der junge Polizist seinem Partner einen schönen Urlaub wünschte. Und dass er ihm beschwor, dass die beiden Kommissare der Mordkommission Unrecht hätten, dass zwar in dem Fall etwas vorgefallen sei, Kevin jetzt aber noch nicht darüber reden konnte oder wollte.
Eines merkte Semir aber ganz deutlich: Es war ein versöhnliches Gespräch. Kevin wollte vermeiden, dass Worte wieder unausgesprochen blieben, bevor jemand für längere Zeit in Urlaub fuhr, so wie es passierte als Kevin nach Kolumbien flog um Annie zu suchen. Und das beeindruckte den erfahrenen Polizisten, denn er wusste wie schwer es seinem jungen Partner fiel, über seinen Schatten zu springen. Und wenn er das Gespräch richtig deutete, hatte Kevin von sich aus angerufen. Er kam langsam näher ohne den Eindruck zu machen, heimlich mit zu hören und Kevin bemerkte ihn auch, ohne das Gespräch schnell zu beenden.
Er setzte sich neben Kevin auf den Rand des Blumenkübels, nachdem dieser dann kurz danach das Gespräch beendet hatte und klopfte seinem jungen Freund auf die Schulter. "Das war gut...", sagte er nur anerkennend. Kevin nickte: "Ja, im Streit auseinandergehen war noch nie gut.", meinte er nachdenklich und sah mit seinen blauen Augen gegen die Sonne, bevor er seine Zigarette vom Ohr nahm und zwischen die Lippen steckte. Dann ließ er das Feuerzeug aufschnappen und die Flamme schwärzte die Spitze des weißen Filterpapiers. Semir, über 20 Jahre älter, hätte Kevins Vater sein können, und so oft schon hatte er versucht zu dem jungen Mann durchzudringen. Als er versuchte eine Entführerin zu decken in einer Kneipe, als er über seine Vergangenheit schwieg oder in dem Fall mit Kevins ehemaligen Drogendealer Anis. Manchmal schaffte er es, manchmal blockte der junge Polizist. Es war schwierig, es war kompliziert.
Jetzt saß er wieder neben ihm, und wieder beobachtete er die Augen des jungen Polizisten, die in die Ferne sahen als sehe er dort seine Zukunft... oder er blickte schon wieder in die Vergangenheit auf eins seiner zahlreichen Traumata. Der Mord an seiner Schwester. Der Tod des Mädchen in dem brennenden Haus und die Jagd nach den Mördern seiner Schwester. Zuletzt suchte er den Verräter, der den Mördern einen entscheidenden Tipp gegeben hat und er setzte dabei sogar seinen Job aufs Spiel. Seine Drogensucht hatte er besiegt, doch er war latent rückfallgefährdet.
"Kevin...", sagte Semir nach einigen Momenten des gegenseitigen Anschweigens. "... wenn man zu lange etwas nicht erzählen kann oder will... irgenwann hat man niemanden mehr, dem man es erzählen kann, wenn man es will." Es sollte nicht als Drohung oder Warnung klingen, es war mehr ein Hinweis dass jede Geduld eines jeden Freundes endlich sei. Und die beiden Polizisten sowie und vor allem auch Jenny hatten nun schon wirklich viel Geduld mit ihrem Problemkollegen bewiesen. Aber sie konnten ihn auch nicht allein lassen, zu sehr war er mit seiner Art in ihr Herz gewachsen, mit seinem manchmal schon leichtsinnigen Mut seinen Kollegen zu helfen und für sie einzustehen. Das war es, was Semir wirklich schätzte. Er konnte Kevin hörbar ausatmen hören, als er den Zigarettenrauch ausblies.
"Ich weiß.", sagte er nur, und machte keinerlei Anstalten, mehr zu erzählen. Er konnte einfach noch nicht, seine Gedanken darum waren zu frisch. "Lass uns erst den Fall abschließen. Vielleicht fällt es mir dann leichter. Aber auch dir verspreche ich, es ist nicht wie Torben und Bastian sagen. Ich habe keinen Mörder wissentlich gedeckt oder laufen gelassen." Semir nickte zögerlich, die Stimme von Kevin hörte sich wesentlich sicherer und ehrlicher an, als seine Erklärung von heute vormittag, dass die Ermittlungen einfach nicht gut gelaufen waren.
Das zeichnete Semir aus. Er hätte den jungen Polizisten jetzt auch einfach in Ruhe lassen können. Soll er doch machen was er wollte, wenn er nichts erzählte. Aber der erfahrene Polizist ließ den jungen Kollegen nicht fallen. Es müsse viel zusammenkommen, bis das passiere... vermutlich der Extremfall, dass es doch so war, dass er wissentlich einen Mörder gedeckt hat. Aber das glaubte Semir selbst nicht. Jetzt blickten beide Männer gerade aus, jeder für sich. Semir spitzte die Lippen und erzählte kurz, dass die Befragung bei der Dienststelle für Wirtschaftskriminalität wenig Erkenntnisse ergeben hätten, auch wenn sich ein Kollege ziemlich verdächtig verhalten hatte. "Der könnte vielleicht unser Mann sein. Andrea soll sich dessen Akte mal ansehen.", schloß Semir seinen Bericht ab, obwohl Kevin von dem Fall ja eigentlich ausgeschlossen war. Aber natürlich interessierte es ihn, stand er doch immer noch im Fadenkreuz.
Kevin antwortete... aber nicht auf den Fall. Sein Satz kam für Semir völlig unvermittelt. "Ich höre auf." Der Deutschtürke hatte zuerst den Eindruck, er habe sich verhört, denn nur langsam bewegte er den Kopf zu Kevin um ihn anzusehen. "Was sagst du?" "Ich höre auf.", wiederholte er mit fester Stimme, und erst jetzt suchte er den Blickkontakt mit Semirs braunen Augen. "Es funktioniert nicht. Ich hab gedacht, es würde gehen wenn ich so manche Dinge aus meiner Vergangenheit einfach tief in einem Keller einsperre und nie wieder rauslasse. Wie die Beziehung zu Anis, wie dieser verdammte Fall von damals. Aber der Geruch davon wird immer wieder hochkommen."
Die Metapher konnte Semir durchaus verstehen... die Konsequenz daraus aber nicht. "Und das ist der Grund, warum du aufhören willst?", fragte er verständnislos. Hatte der junge Polizist schon wieder nicht genug Vertrauen? "Es ist wegen euch. Ihr habt das nicht verdient. Jenny hat das vor allem nicht verdient. Ich kann ihr nicht ständig weh tun, wenn wieder irgendwas aus meiner Vergangenheit hochkommt. Ob ich ihr wehtue, in dem ich es erzähle oder ihr weh tue, wenn ich es verschweige. Auf eine andere Dienststelle will ich nicht mehr.", sagte der junge Polizist und zog nochmal an seinem Glimmstengel. Semir spürte, wie ihm sein Partner buchstäblich aus den Händen entgleiten drohte, und er fühlte sich an die Situation erinnert, als sein Partner Tom den Job hinschmiss. Damals war Semir gleich alt, die beiden Männer waren charakterlich auf Augenhöhe. Dieses Mal war es anders... Semir war weitaus älter, lebenserfahrener... und er stand nicht einem jungen Mann gegenüber, der ähnlich tickte wie Semir, sondern der ein völlig anderer Mensch, ein völlig anderer Charakter war.
"Ich war doch nie wirklich ein Polizist.", meinte Kevin dann und lächelte bitter. Auf den, vielleicht im Kern wahren Einwurf, ging Semir nicht ein: "Und was willst du stattdessen machen?" Sein Nebenmann zuckte mit den Schultern. "Erstmal die Boxschule mit Jerry... aber wo? Keine Ahnung." Und dann fügte er noch hinzu: "Jedenfalls nicht hier. Vielleicht irgendwo im Ausland."
Dieser Satz trag Semir allerdings noch mehr. Hatte er erst gedacht, weiterhin direkten Kontakt zu Kevin zu halten, schien der den kompletten Cut zu wollen. Mit skeptischer Miene sah er ihn an, während der junge Polizist wieder in die Ferne sah. "Du würdest Jenny damit verdammt weh tun.", sagte er und nahm sich selbst aus. Er wusste, dass Jenny noch etwas für den schweigsamen Mann empfand, ohne dass sie es je selbst gesagt hatte. Das merkte man einfach. "Ich weiß. Aber besser, ich tue ihr nur einmal weh, als andauernd wenn ich hier bleibe.", sagte Kevin ohne Semir anzusehen. Der stand von dem Blumenkübel auf. "Und was, wenn das auch nicht das Richtige ist, Kevin? Was machst du dann?", stellte er die Frage und ließ die Antwort offen, in dem er sich die Hose am Po abklopfte und wieder in das Dienststellengebäude hinein ging...