Köln - gleiche Zeit
Claus Frege hatte sich, für die beiden Polizisten, denkbar schlechteste Fluchtauto ausgewählt. Ein schwerer Sattelschlepper, dazu noch mit einigen Autos beladen, bedeutete Lebensgefahr für alle Verkehrsbeteiligten. Und auf solche nahm Claus in der Minute des psychischen Ausnahmezustandes auch keinerlei Rücksicht. Deswegen hatte Semir sofort das Gefühl, dass er auf dem LKW mehr ausrichten konnte, als mit Ben im Dienstwagen dahinter. Die Anstrengung des Sprints merkte er in solchen Momenten nicht, genauso wenig stellte er mathematische Berechnungen an, wann er jetzt vom Asphalt abspringen musste, um definitiv die Kante des LKWs zu erreichen, an der er sich jetzt festklammerte. In solchen Situationen verließ er sich voll und ganz auf sein Gefühl, und dieses ließ ihn auch diesmal nicht im Stich.
Hinter sich hörte der kleine Polizist sofort Reifengequietsche und Sirenengeheul. Er blickte sich kurz um, konnte über die Schulter aber wenig erkennen ob sich jetzt Streifenbeamte oder Ben an seine Fersen hefteten. Er ergriff den weiteren Verlauf der Metallteile, die zum Auffahren auf den LKW da waren, bis er endlich auch an den Füßen einen sicheren Stand hatte. Dann atmete er für einen Moment durch, er stand jetzt direkt hinter einem kleinen Toyota, der als letztes auf der unteren Ladefläche stand. Dann sah er sich um und blickte fast direkt in Bens fragendes Gesicht, der direkt hinter ihm fuhr.
Lange konnte der kleine Polizist aber nicht verschnaufen, denn plötzlich machte der LKW einen Ruck, der Semir straucheln ließ. Reflexartig griff er nach irgendwas haltbaren, genügend Gestänge links und rechts von ihm waren vorhanden. Der Grund für das Rucken kam sofort für ihn ins Bild, als der LKW und danach die Polizeikolonne einen Kleinwagen überholten, der entgegen der Fahrtrichtung stand, mit eingedrücktem Kofferraum. Scheinbar hatte Frege den Wagen gerammt, ein Streifenwagen bremste sofort um sich um eventuell Verletzte zu kümmern. Die Bewegungen des LKWs hatten sich noch nicht beruhigt, da spürte der erfahrene Kommissar erneut, wie die physikalischen Kräfte an ihm rissen, als Frege an einer Kreuzung rechts abbog. Gemerkt, dass er einen blinden Passagier an Bord hatte, schien er noch nicht zu haben.
Semir dachte nach. Solange sie in der Stadt seien, konnte er nicht angreifen, das Risiko eines Unfalls war viel zu hoch. Er hoffte, Frege würde auf die Landstraße flüchten, besser als die Autobahn. Weil dieser den Verkehr doch eher hinderlich fand, entschied sich der Flüchtige ebenfalls für diesen Plan und steuerte den Autoaufflieger auf eine Straße, die aus Köln herausführte, und auf der nur wenig Verkehr war. Semir atmete auf, er hielt sich immer noch an den Gestänge des "zweiten Stocks" fest, des Oberrangs wo weitere Autos standen. Dann griff er zu seinem Handy.
Natürlich klingelte es sofort bei Ben im Auto, der abhob. "Was ist denn jetzt?", rief er gehetzt, während er versuchte an dem flüchtenden LKW dran zu bleiben. "Komm auch rauf! Wir müssen ihn von zwei Seiten überraschen, ich hab keine Lust mit ihm im Graben zu landen!", rief Semir und sah Ben dabei an, der die Lippenbewegung seines Partners sah und verzerrt am Hörer seine Stimme hörte. "Wie soll ich das machen? Hier ist keine Leitplanke, um den Wagen einzuklemmen." Er beobachtete, wie der kleine Polizist sich gehetzt umsah. Sie mussten Frege stoppen, bevor es zu weiteren Unfällen kam. "Na dann fahr halt auf?" "Wie bitte?" Er sah wie Semir sich bis zu dem Bedienbord des LKW-Aufliegers hangelte und begann, die beiden Schienen zum Auffahren herunter zu lassen. Der LKW war zum Glück älter, so dass man dies noch nicht vom Führerhaus steuerte, und es dort auch keine Meldung gab, was da hinten passierte. Frege sah und hörte im Rückspiegel nur die Sirenen der Verfolger, aber nicht was auf seinem Aufflieger vor sich ging.
Die Autos waren zum Glück nicht abgesperrt. Semir öffnete von dem hinteren unteren Wagen die Tür, löste die Handbremse und nahm den Gang heraus. Gehalten wurde der Wagen nun nur noch von zwei Spanngurten, die um die Vorderreifen gebunden waren. Während der gesamten Aktion musste er sich immer wieder festhalten, wenn der LKW durch Kurven fuhr und der Fahrtwind riss an seinen Klamotten.
Er machte Ben ein Zeichen, dass dieser Abstand halten sollte und wartete bis zu einer Linkskurve. Den ersten Spanngurt schnitt er vorher durch, den zweiten als sie in der Linkskurve waren, so dass der Kleinwagen gefahrlos geradeaus ins Feld rollte. Ben fuhr daran vorbei und schüttelte den Kopf. "Ein Typ..." Ein Parkplatz auf dem LKW war jetzt frei für Ben, Frege sah währenddessen immer öfters in die Seitenspiegel, denn das er ein Auto verloren hatte, bekam er natürlich mit. Der Polizist mit dem Wuschelkopf nahm etwas Abstand, bevor er das Gaspedal ganz durchdrückte und mit Schwung auf den LKW-Auflieger fuhr. Das Auto tat einen Schlag, er setzte vorne einen Moment auf denn normalerweise fuhr man mit geringerer Geschwindigkeit auf einen solchen Anhänger. Am Dienstwagen hinterließ die Aktion böse Schrammen unterhalb der Frontlippe.
Ben zog die Feststellbremse, die Beamten, die dem LKW immer noch folgten, wunderten sich nicht schlecht. Semir zog seine Dienstwaffe, Ben tat es ihm gleich, nachdem er ausgestiegen war. "Und jetzt?" "Du lenkst ihn an der Beifahrertür ab, ich schlag ihn an der Fahrertür KO." "Klingt nach nem simplen Plan.", bemerkte Semirs bester Freund, und die beiden hangelten sich langsam während der Fahrt an beiden Aussenseiten des Transporters entlang, bis sie knapp hinterm Führerhaus waren. Frege allerdings hatte im linken Rückspiegel Semir bereits gesehen, die Waffe in der Hand und entsichert.
Doch zunächst wurde er durch Klopfen am Fenster der Beifahrertür aufmerksam. Ben zielte durch die geschlossene Scheibe auf Frege und rief, gedämpft durch das Glas, laut "Anhalten! Sofort anhalten!" Frege wäre der erste Flüchtende, der sich an die Anweisung von Ben gehalten hätte, und so zielte er seinerseits auf die offene Scheibe. Ben hatte natürlich damit gerechnet und schwang sich wieder ein Stück zurück vom Fenster, als die Waffe knallte und die Fensterscheibe splitterte. Genau in diesem Reflex riss Semir die Fahrertür auf, holte mit der Waffe aus und schlug zu, doch als hätte Frege damit gerechnet duckte er sich zur Seite weg, so dass der Hieb des Polizisten ins Leere ging. Noch bevor Semir realisierte, dass sein Plan gerade dabei war, zu scheitern, zielte der Polizist auf der Flucht und drückte ab. Ein stechender Schmerz in Semirs Oberarm, der die Waffe hielt, die klappernd zu Boden fiel war die Folge.
Schnell schwang er sich ebenfalls wieder ins Freie, zum Glück hatte Frege nicht in den Arm geschossen, mit dem er sich festhielt... Semir wäre unweigerlich aus dem LKW auf den Asphalt gestürzt. "Fuck...", zischte er, als ihm ein wohlbekanntes Brennen im Arm deutlich wurde und er spürte das warme Blut bis zur Hand laufen. Er war jetzt unbewaffnet, beide waren wieder knapp hinter dem Führerhaus, und jetzt begann Frege wilde Schlangenlinien zu fahren, um die lästigen Verfolger im wahrsten Sinne des Wortes "abzuschütteln."