Sie hörten das Signal des NEFs. „Endlich,“ entfuhr es den beiden Rettungsdienstlern. Kurz darauf betrat Dr. Seywald mit ihrem Fahrer den RTW.
„Was liegt an?“
„Polizist, 50 Jahre, keine Vorerkrankungen. Schussverletzungen links thorakal und links im Oberschenkel. Kurze, anfängliche Bewusstlosigkeit, bei unserem Eintreffen ansprechbar aber somnolent, starke Schmerzen. Sättigung initial bei 80% mit O2-Gabe über Maske bei maximal 85%, daher assistierte Beatmung, dabei Sättigung 95 und besser. Blutdruck initial bei 100/90, jetzt bei 90/60. Tachycard, initial 115, jetzt zwischen 130. Letzte Mahlzeit war das Frühstück,“ wies Ina die Ärztin ein.
“2x Ringer läuft. Haes ist vorbereitet. Ketamin, Dormicum, Norcuron und Suxi sind aufgezogen, Intubation vorbereitet. Wollen Sie noch Atropin, “ ergänzte Sven.
Die Ärztin, die eben noch auf die noch nicht fertig versorgte Wunde am Brustkorb gesehen hatte, nickte zustimmend. „Danke, gute Arbeit.“
Dann begab sie sich zu Semirs Kopf. „Mein Name ist Seywald, Herr ...“
„Gerkan“, ergänzte Sven.
„Endlich“ seufzte er unter der Maske, während ihm Ina weiter beim Atmen half und schloss wieder die Augen. Dr. Seywald leuchtete Semir kurz in die Augen, konnte aber nichts Auffälliges feststellen. Sie hörte ihren Patienten kurz ab, kommentierte das Ergebnis mit „ein Pneu,“ und ließ sich von Sven nochmals alle Medikamente zeigen. Sie nickte zufrieden und meinte:
„Dann werden wir mal loslegen. Herr Gerkan, öffnen Sie bitte nochmals die Augen. Ich möchte, dass Sie mich jetzt ansehen, so lange es ihnen möglich ist. Okay?“ Semir stöhnte und bejahte. Das grelle Licht über ihm verursachte pochende Schmerzen in seinem Schädel.
„Sie haben schwere Verletzungen. Sie bekommen gleich eine Narkose, dann sind die Schmerzen weg. Ich übernehme ihre Beatmung. Sie werden das Bewusstsein verlieren. Es kann sein, dass Sie kurz etwas unangenehme Träume haben, das ist eine Nebenwirkung des Ketamins. Ich werde Ihnen dann einen Schlauch in die Atemwege führen und Sie an die Maschine anschließen. Haben Sie mich verstanden?“ Semir presste ein „Ja“ hervor. Was auch immer sie sagte, was auch immer sie tun würde: Er fühlte sich gerade wie ein unwillkommener Gast in seinem eigenen Körper! Die weichen Hände von Ina wichen dem festen Griff von Dr. Seywalds langen spitzen Fingern.
„Schauen Sie mich bitte weiter an, bis es gar nicht mehr geht.“ Semir riss die Augen wieder auf. Das alles war ein Albtraum...
Gefangene der Dunkelheit
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- Fertig gestellt
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Krypto -
26. Oktober 2017 um 18:25
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Semir spürte einen Druck in seinem Arm, er hörte das Piepsen des EKGs und das leise Rauschen des Sauerstoffs. Wärme stieg in ihm auf. Der Schmerz lies nach. Endlich. Er atmete ein paar Atemzüge ein und aus. Ihn überkam das Gefühl, alle seine Muskeln würden jeden Dienst versagen. „Gleich haben Sie's geschafft,“ sagte Dr. Seywald. Was noch an Panik da war, wich jetzt einer merkwürdigen Gleichgültigkeit und bleiernen Müdigkeit. Semirs Augenlieder wurden noch schwerer, er konnte Sie nicht mehr halten. Er blinzelte. Das Piepsen entfernte sich. Die Kinder waren da. Sie spielten mit einer großen Puppe. Nein! Einer Toten! Steffi? Ismael? Nein!!! Semir wollte schreien und konnte nicht. Jemand arbeitete an seinem Hals. Aber da kam Andrea ihm näher: „Es ist nur ein Traum. Alex erledigt das schon für dich...“ Sie streichelte ihm über die Wangen, wie sie es damals getan hatte, nach dem Autounfall mit Ben. Es wurde dunkel, Semir hatte das Gefühl, in warmes Wasser zu tauchen. Es war gut, er ließ es geschehen. Dr. Seywald intubierte ihn problemlos und schloss ihn an die Beatmungsmaschine an, nachdem sie die Lage des Tubus überprüft hatte. Das wieder angelegte Stiffneck und die seitliche Kopfstütze sollten mögliche weitere Schäden an den Wirbeln während des Transports verhindern. Allein auf dem Weg von hier wieder zurück auf die Straße warteten Schlaglöcher. Angesichts des Feierabendverkehrs in Köln, der ihr schon auf der Anfahrt Probleme bereitet hatte, legte Dr. Seywald noch vor Ort eine Thoraxdrainage in die verletzte Seite des Brustkorbs und schloss sie an die Absaugpumpe an. Denn durch das Einschussloch einströmende Luft und Blut hatten die Lunge verdrängt und behinderten die Atmung. Die Volumenersatzlösung lief. Sie machten sich mit Sondersignal auf den schnellsten Weg in die Klinik.
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Endres war den beiden Flüchtigen gefolgt, hatte aber nach dem Abbiegen das Licht ausgeschaltet. Sie hatten gerade noch beobachten können, wie der Transporter in den Hof abbog. Alex gab über Funk ihre Position bekannt. Auf eine Bestätigung wartete er gar nicht, sondern stieg aus und rannte zu dem Tor. In der Dunkelheit erkannte er den Transporter. "Brightwhite" stand auf dem Firmenschild des Hauses, das in dem Hof stand. Endres hatte Alex nicht aufhalten können - er wusste, dass er damit auch keinen Erfolg gehabt hätte: Alex wollte nur noch diese Typen stoppen, die seinen Partner niedergeschossen hatten. "Sag mal, Susanne: Was stellt Brightwhite eigentlich her? Da stehen so Kanister auf dem Hof...," fragte Endres bei Susanne nach.
"Brightwhite" stellt besonders reines Wasserstoffperoxid in verschiedenen Konzentrationen her und vermarktet es. Abnehmer sind Medizin, Kosmetik- und Reinigungsindustrie...." Im Hintergrund hörte Endres den Ruf einer unbekannten Stimme. Dennoch fragte er Susanne : "Lass mich raten, das Zeug verträgt keine Explosionen?" "Wie man's nimmt: Das ist hoch brennbar!" In diesem Moment fiel ein Schuss. "Scheiße, Susanne!" Es fielen zwei weitere Schüsse. "Schick her, wen du hast!" "Jenny und die Kollegen vom LKA müssten gleich bei dir sein."
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Es dauerte trotzdem eine halbe Stunde lang, bis Semir im Schockraum der Klinik ankam. Trotz weiterer Volumengabe und kreislaufstützender Medikamente verschlechterte sich Semirs Zustand während der Fahrt. Im Schockraum wurde er umgelagert.
Die Ärztin beeilte sich mit der Übergabe – heute war mal wieder die Hölle los! Auch das Team vom Rettungsdienst verabschiedete sich – sie mussten so schnell wie möglich ihre Ausstattung reinigen und auffüllen! Die Leitstelle brauchte sie so schnell wie möglich zurück.
Gerade wollte man Semir mit dem mobilem Röntgengerät untersuchen, da stiegen plötzlich Blutdruck und Puls.Das erste, was Semir bemerkte, war die Schwere seiner Glieder. Die heftigen Schmerzen. Die vollumfängliche Dunkelheit. Er konnte sich nicht rühren, keine seiner Zellen schien ihm mehr zu gehorchen. Nicht einmal die Augenlieder ließen sich bewegen. Kein Laut entwich seinem Mund, der mit irgendetwas gefüllt war. Panik ergriff ihn. Wo war er? Was war passiert? Er spürte sein Herz rasen. So schnell, so unbändig, dass ihm das Hämmern des Pulsschlags in den Ohren kreischte. Im selben Moment musste etwas an seinem Verhalten seine Peiniger informiert haben, dass er im Begriff war, zu sich zu kommen: Ein schriller Alarm ertönte. Semir hörte ein Fluchen. Ein unmenschlicher Schmerz durchzog seinen Kopf. Ihm wurde übel. Wieder verlor er das Bewusstsein und mit ihm jeden Schmerz.
Die Anästhesistin wusste sofort, was passiert war: „Das Ketamin lässt nach!“ Kaum hatte sie ihren Patienten mit einer passenden Narkose versorgt, sackte der Blutdruck ab. Der rasende Puls war nicht mehr an den Handgelenken, nur noch am Hals schwer tastbar. Dr. Seywald hatte den Brustkorb so gut wie möglich versorgt und die Atmung gesichert. Gegen die Blutung, die sich laut dem ersten Ultraschall im Schockraum in Semirs Bauch ausbreitete und die Blutung, die im Oberschenkel stattfinden konnte, waren alle präklinischen Maßnahmen machtlos.
In Windeseile packte das Schockraumteam alles Erforderliche zusammen und Semir kam in den OP. Dort leuchtete die Anästhesistin ihrem Patienten nochmals in die Augen und stellte erschrocken fest: "Er hat eine klare Pupillendifferenz!" -
Der Mitarbeiter der Sicherheitsfirma, die Brightwhite bewachte, war auf das fremde Fahrzeug aufmerksam geworden. Er nahm seine ostdeutschen Schäferhündin "Kenza" und ging auf den teilweise von Scheinwerfern erleuchteten Hof.
"Guten Abend," rief er. "Bitte verlassen Sie den Hof! Das ist kein öffentlicher Parkplatz!"
Abdel Waarit stieg aus. Er sah in die glitzernden Augen des dunklen, knurrenden Schäferhundes, ca 50 Meter vor ihm. Ohne ein Wort zu sagen, zog er die Pistole und schoss dem Hund in den Kopf. "Kenza!" Fassungslos sah der Wachmann, wie seiner treuen Begleiterin die Beine wegsackte. Ihr Körper schlug auf dem Boden auf, wo die Rute noch einmal zuckte. -
Der Wachmann war so entsetzt, dass er gar nicht merkte, wie Abdel Waarit näher kam, die Kurzfeuerwaffe fest auf ihn gerichtet. Dies war der Moment, in dem Alex aus seiner Deckung sprang: "Hände hoch!" Doch Abdel Waarit machte keine Bewegung. Alex war klar : Dieser Mann wollte nur noch töten. Alex schoss - und die Kugel traf Abdel Waarit, als dieser gerade den Finger am Abzug bewegt hatte. Er verriss den Lauf und traf den Wachmann ins Bein. Sein gellender Schrei erfüllte die Abendluft.
Endres kletterte über den Zaun so schnell er konnte. Während Alex auf Abdel Waarit zuging, öffnete er die Tür des Transporters. Mit vorgehaltener Waffe forderte er Deniz Ceylan zum Aussteigen auf. Betont langsam setzte der das Fläschchen, aus dem er getrunken hatte ab. Seltsam lächelnd kam er der Aufforderung nach.
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Alex schrie auf. Entgegen seiner Erwartungen, wehrte sich sein Gegner überaus heftig gegen eine Festnahme. Obwohl sein Blut den ganzen rechten Ärmel seiner Jacke glänzen ließ und auf den Boden tropfte, stürzte er sich auf Alex. Und er war gut trainiert!
Alex hatte alle Mühe, sich vor den Schlägen zu schützen - an mehr war trotz aller Nahkampfausbildung nicht zu denken! Ihm gelang zwar der ein oder andere Tritt, bekam aber kraftvolle Fausthiebe in den Magen und Tritte in die Seite zurück, die ihn straucheln ließen. Noch bevor er die Deckung wieder aufnehmen konnte, führte Abdel Waarit einen Sidekick aus, der erst Alex Seite und dann sein Handgelenk traf.
Endres wollte Deniz Ceylan Handschellen anlegen, da sah er, dass Alex nach einem kräftigen Kopfstoß völlig benommen am Boden lag. Abdel Waarit hob gerade mit der linken Hand seine Waffe auf und versuchte, sie auf Alex zu richten.
"Waffe weg, oder ich schieße," schrie Endres.
Abdel Waarit drehte sich lächelnd um. Er ließ die Waffe etwas sinken, drehte sich zu Alex und öffnete seine Jacke. Deniz stellte sich neben ihn und tat es ihm gleich. Unter den Jacken kam ein Kabelgewirr zum Vorschein. "Ihr könnt uns nicht besiegen. Wir sind stärker. Wir spüren keine Schmerzen. Und : Wenn einer von uns eine Herzfrequenz unter 25 hat, fliegt hier alles in die Luft!" -
In diesem Moment bog Jenny, dicht gefolgt von mehreren LKA Fahrzeugen mit quietschenden Reifen in die Straße ein. Alex stand keuchend auf. Er nahm Abstand zu seinem Gegner, immer weiter mit der Waffe auf ihn zielend. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt einen Schuss abgeben konnte - sein Handgelenk war schon dick. Wenn er auf seine Beine schösse, könnte der immer noch schießen. Und sich in die Luft sprengen. Verzweifelt suchte er nach einer Lösung. Hinter sich hörte er, wie Autotüren geöffnet wurden.
"Hände hoch und Waffen runter," schrie da ein LKA-Mann. "Nicht schießen, schrie Alex zurück," oder wir sind alle tot!"Es war die Gelegenheit für die beiden Attentäter, möglichst viele Polizisten mit in den Tod zu reißen. "Was habt ihr armseligen Kuffar nur für eine Angst vor dem, was uns allen sicher ist? Für euch die Hölle! Allahu akbar," schrie Abdel Waarit. "Allahu akbar," schrie auch Deniz.
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"Akbar min al-kirahia,*" ertönte eine Stimme in just dem Moment, in dem der untere Hinterkopf von Abdel Waarit von einem dicken Kantholz hart getroffen wurde. Der Attentäter brach sofort zusammen. Neben ihn ließ sich der Wachmann mit schmerzverzerrtem Gesicht fallen.
Alex und Endres nutzten den Überraschungseffekt. Sie warfen sich gemeinsam auf Deniz, der sich mit beinahe unglaublicher Kraft wehrte. In dem Gerangel riss Endres zwei Kabel aus dem Bombengürtel, der Deniz umfing.
"Bringt den Wachdienst weg," schrie Alex.
So schnell sie konnte, lief Jenny in ihrer geliehenen neonorangenen Bauhofkleidung zu dem verletzten Wachmann. Sie versuchte, ihn zu stützen und mit ihm weg zu kommen. Mehrere Beamte des LKAs rannten ebenfalls auf den Hof. Mit ihnen kamen zwei besonders gut geschützte Polizist in Vollmontur des Sprengmittelkommandos. Einer beugte sich über Abdel Waarit und durchsuchte ihn, während zwei andere Polizisten ihn sicherten.
"Entwarnung," schrie er durch das Mikrofon seines Helms:"Die Bombe ist eine Attrappe! Ich wiederhole :Bombe ist nicht scharf!"
"Die hier auch nicht mehr," bestätigte der andere Sprengstoffexperte,der sich Deniz besehen hatte.
"Nein," schrie Deniz. Obwohl sein Verstand etwas vernebelt war, begriff er: Abdel Waarit hatte sich nicht selbst töten wollen, wollte aber sicher gehen, dass Deniz Bombe zündete! Was genau das zu bedeuten hatte, warum, wieso, das konnte er nicht ergründen. Er hatte jetzt andere Ziele. Er riss sich mit unbändiger Kraft los und versuchte, wieder in den gestohlenen Transporter zu kommen.
"Stehen bleiben," rief Jenny, die nun am Nächsten zu ihm war. Doch er machte keine Anstalten, auf sie zu hören. Sie schoss, zeitgleich mit einem Beamten des LKAs. Deniz brach zusammen.
"So," stellte Alex trocken fest: "Ich glaube, wir brauchen jetzt mal ein paar RTWs."*Größer als dieser Hass.
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Der Regen wurde stärker. Alex setzte sich in die Nähe von Jenny auf die überdachte Laderampe der Firma und atmete tief durch.
"Jenny? Sag mal, was hast du eigentlich an? Was ist mit Semir," fragte er.
"Arbeitskleidung vom Bauhof, war ja alles voll Blut. Aber Semir kam wieder zu sich. Er ist in guten Händen." Alex seufzte erleichtert. Nach kurzer Pause fragte er
"Jenny? Gibst du mir bitte die Wagenschlüssel? Ich würde gerne nach Hause... " Seine Kollegin sah ihn verwundert an. Er konnte sich kaum rühren, seine rechte Hand war angeschwollen und er wollte allen Ernstes allein fahren? Vielleicht ging es ihm aber auch mehr darum, allein zu sein - Schließlich war er ganz schön zugerichtet worden. Also sagte sie mitfühlend:
"Verstehe ich. Aber du bist nicht so ein Fernseh-Action-Held, der nach den schlimmsten Crashes unverletzt davon spaziert. Du kommst mir erst hinters Steuer, wenn mir ein Arzt bestätigt, dass du fahren kannst - Und dir heute Nacht auch nichts passiert!"
Alex maulte ein wenig vor sich hin - von wegen Action - Held! Aber es war ja nett, dass sie sich so um ihn sorgte. Er versuchte, seinen Kopf in die Hände zu legen - er war nun wirklich fertig. Er hatte ja schon einige Schlägereien überstanden. Aber gegen so übermenschliche, nicht enden wollende Kräfte hatte er selten ankämpfen müssen. Er war noch immer fassungslos, welche Welle der Gewalt da über ihn herein gebrochen war.
Er sah sich um. Jemand hatte seinen bewusstlosen Gegner in Handschellen auf die Seite gelegt. Deniz lag ebenfalls reglos auf der Seite, ein Beamter drückte eine inzwischen völlig durchgebluteten Ansammlung von Verbandstüchern auf seinen Halsansatz. Jenny sah den Wachmann an und sagte :
"Danke für vorhin." Trotz seiner Schmerzen lächelte er sie an.
"Das war meine Aufgabe. Übrigens: Ich heiße Tareq Al-Hafis."
"Jenny Dorn. Das ist mein Kollege Alex Brandt," stellte Jenny sie vor. Seine schwarzen Augen glänzten, als Tareq freundlich lächelte. Lange, dunkle Locken hatten sich unter der Mütze hervorgearbeitet.
"Ich bin vor 6 Jahren als Germanistik-Student hier her gekommen. Kurz darauf brach in meiner Heimat Syrien der Krieg aus." Er sah kurz in die Ferne. Aus seinen Augen flossen Tränen.
"Gott ist größer, schreien die. Sie haben nichts verstanden. Hier ist Frieden, das ist.." er suchte kurz mit einem Blick in den Himmel nach dem Wort. Dann fuhr er fort : "Göttlich! Gott ist größer als der Hass."
Traurig sah er auf den toten Hund: "Ich habe nie gedacht, dass ich mal um einen Hund so traurig bin! Aber sie war so ein tolles Tier!" Alle drei sahen auf den inzwischen abgedeckten Tierkörper, als sie in ihren Gedanken unterbrochen wurden :
"Ich glaube, der packts nicht," schrie der Polizist, der bei Deniz kniete. -
Endres war mit den inzwischen eingetroffen Kriminaltechnikern des LKAs auf dem Hof unterwegs. Er erläuterte die Spuren und Geschehnisse der letzten Stunden.
Der Einsatzleiter hatte den nach und nach eintreffenden Rettungskräften die Verletzten nach bestem Wissen zugewiesen. Dr. Seywald war - ebenso wie ihr Kollege - zu den Attentätern gerufen worden. Während ihr Kollege sich um Abdel Waarit kümmerte, kam sie zu einem Patienten, der bereits seit 20 Minuten reanimiert wurde. Sie sah die große Blutlache, in der die vor ihr eingetroffenen Sanitäter arbeiteten. Der Polizist, der sie zu ihm geführt hatte, hatte ihr auch erklärt, wie es zu den Verletzungen gekommen war. Der Schuss in den Rücken, der in den Hals....
Die Ärztin untersuchte Deniz kurz. "Ich bekomme kaum Luft in ihn rein," beschwerte sich der Sanitäter, der am Kopf arbeitete. Dr. Seywald nickte. Sie sah auf die Nulllinie des EKGs, dann auf die Uhr und schüttelte den Kopf : "Das wird hier draußen nichts mehr. Reanimation einstellen. Zeitpunkt des Todes: 18 Uhr 52."
Erschöpft ließen die Sanitäter von dem Toten ab. Frau Seywald sprach noch kurz mit ihnen und zeichnete das Protokoll ab. Dann kam sie zu Alex, Jenny und dem Wachmann. Jenny erkannte sie sofort :
" Sie haben doch vorhin unseren Kollegen in die Klinik gebracht. Herrn Gerkan.Wie geht es ihm?"
"Als ich ihn zuletzt gesehen habe, lebte er. Mehr darf ich nicht sagen." Sie ging auf Alex zu, der die Hände hob:
"Nein, mir geht es soweit gut," beschwichtigte er und forderte sie auf:
"Schauen Sie erst nach ihm. Er hat uns gerettet."
"Na gut, wenn Sie meinen... Aber bevor Sie mir hier kollabieren, melden Sie sich," erwiderte die Ärztin mit geschultem Blick. Alex murmelte ein "Ja, ja!" und ließ sich wieder auf die Decke sinken, die Jenny ihm organisiert hatte.Tareq saß in der Ecke, hatte sein verletztes und notdürftig verbundenes Bein auf einen leeren Kanister gelegt und die Augen geschlossen. -
Jennys Handy klingelte. "Ja, Hartmut?" "Jenny, alles okay bei euch? Ich versuche schon länger, Alex zu erreichen?!" Jenny blickte zu Alex der ihr sein Smartphone zeigte - das Display war zerstört.
"Das kannst du stecken, sein Smartphone hat den Kampf mit dem einen Attentäter nicht überstanden. Muss ziemlich zur Sache gegangen sein."
"Ja, ich habe mal gelesen, dass man unter Tilidin plötzlich Kräfte freisetzt..."
"Tilidin," fragte Jenny "Ja klar, davon stand ne ganze Menge im Badschrank bei Deniz Ceylan. Das macht angstfrei und schmerzunempfindlich..."
"Na super! Das war es also," seufzte Alex. "Puh, das heißt, ihr habt die Kerle unschädlich gemacht?"
"Also die beiden stellen erst einmal nichts mehr an," meinte Jenny.
"Sehr gut. Die Kollegen von der LKA KTU haben mir nämlich gerade mitgeteilt, dass auf Semir mit 5,7 × 28 mm Munition, wie sie das belgische Militär einsetzt, geschossen wurde. Dagegen haben unsere Schutzwesten keine Chance... Aber ich wollte euch eigentlich was anderes sagen: Semir hatte Recht. Bayram Kader scheint hinter den Anschlagsplänen zu stecken. Die Anweisungen für heute Abend stammten jedenfalls von einem Anschluss unter seiner Adresse. Aber weder er noch seine Frau waren zu Hause. Ein Nachbar hat ihn angeblich heute Nachmittag beim Müllwegbringen gesehen ."
" Das heißt, da läuft mindestens noch einer draußen rum und will im Namen des IS Menschen töten... "fasste Jenny zusammen.
"Ich fürchte, so ist es," stellte Hartmut betroffen fest. -
Das Gespräch wurde von der Ärztin unterbrochen : "So, nun zu uns," sprach sie und wandte sich an Alex. Dieser wollte eigentlich nur noch seine Ruhe haben.
"Ein Bett wäre toll," dachte er sich. Er hatte Schmerzen am ganzen Körper. Ihm war übel und er wollte sich kein bisschen mehr bewegen müssen.
"Na, was ist denn mit ihnen geschehen," fragte Dr Seiwald aufmunternd. Jenny antwortete für ihn:
"Er ist wohl von dem da ziemlich zugerichtet worden. Vermutlich war der auf Tilidin." Sie deutete auf Abdel Waarit, der gerade in den Rettungswagen verladen wurde.
"Oh je, verstehe," sagte die Ärztin, die Alex vorsichtig Abtasten und seine Hand ansah.
"So etwas habe ich noch nie erlebt," flüsterte Alex unter ihren Händen, die seine Schmerzen noch steigerten.
"Ja, unter Tilidin ist manches möglich. Da drehen die Jungs durch, nichts und niemand kann sie stoppen," wusste Dr. Seywald und stellte fest:
"Also wirklich gut geht es ihnen aber auch nicht. Die schlimmsten Schmerzen sind hier, oder," fragte sie und legte vorsichtig ihre behandschuhte Hand auf Alex' linke Flanke. Allein dieser Reiz ließ ihn würgen. "Entschuldigung. Sie bekommen gleich was gegen die Schmerzen und dann lassen Sie sich bitte von den Kollegen hier ins Krankenhaus bringen, ja?" Sie deutete auf einen weiteren Rettungswagen. Alex nickte. Allein die Aussicht auf Schmerzlinderung und die Möglichkeit, sich danach auszuruhen, erschienen ihm so attraktiv, dass er seinen Plan, irgendwie selbst nach Hause zu kommen, rasch aufgab.Jenny half derweil, Tareq in den Rettungswagen zu bringen. Bevor sie sich von ihm verabschiedete, wollte Tareq wissen :"Der Junge am Auto, er ist tot?"
Jenny nickte. Tareq murmelte etwas, was Jenny nicht verstand. Dann bat er sie :
" Informieren Sie bitte die Familie. Für Muslime ist es wichtig, dass sie Tote schnell bestatten können."
Jenny hatte zwar Zweifel daran, dass die Rechtsmedizin die Leichen schnell freigeben würde, aber das musste der Syrer ja nicht wissen. Zugleich fiel ihr ein, dass Alex und Semir heute doch bei einem Imam gewesen waren - vielleicht könnte der ja auch die Nachricht überbringen? Steffi wollte sie es selbst sagen, wenn sie dürfte. Sie ging zum anderen RTW und wollte Alex nach dem Namen des Hocas fragen. Doch der RTW fuhr gerade los, der mit Tareq und das NEF hinterher.Susanne hatte ihre Freundin Andrea sofort informiert. Doch weil Dana noch beim Sport war, konnte sie nicht sofort kommen. Erst als ihre Stieftochter zu Hause war, fuhr Andrea ins Krankenhaus. Susanne hatte ihr nur sagen können, dass auf Semir geschossen worden war. Da dies nicht das erste Mal war, nahm Andrea die Nachricht noch recht gelassen hin.
Sie ging zum Aufnahmeschalter. Nach kurzer Rückfrage im OP bekam sie dort zu hören, dass mit einer mindestens 6 stündigen Operation zu rechnen sei und sie doch bitte wieder nach Hause fahren sollte. Da wurde Andrea klar, dass es keine Bagatellverletzung war. Aber niemand gab ihr weitere Auskunft. Verzweifelt trat sie den Weg nach draußen an, wo sie Jenny und Endres begegnete. Sofort fragte Jenny :
„Wie geht es Semir?“ Andrea schüttelte nur den Kopf und schluchzte:
„Keine Ahnung!“ Jenny nahm Andrea tröstend in den Arm. Zuerst versuchte sie, Gelassenheit zu verbreiten:
"Er wird schon wieder. Ich bin mir sicher!" Gleichzeitig hatte sie jedoch Semirs fahle Gesichtsfarbe, das Blut auf ihren Händen und seinen anstrengenden Kampf um jedes bisschen Luft vor ihrem inneren Auge. Dadurch schwankte ihre Stimme, was Andrea sofort wahrnahm und sie skeptisch ansah. Also versuchte Jenny abzulenken :
"Gleich kommt der RTW mit Alex,“ erklärte sie und fügte auf Andreas entsetzten Blick schnell hinzu:
“Er hat den Kerl geschnappt, hat aber ein bisschen was abbekommen und muss sich hier untersuchen lassen. Reine Routine.“ Andrea atmete auf. Jenny forderte sie auf :
"Komm, geh nach Hause! Morgen sieht die Welt ganz anders aus." Andrea nickte. Sie fuhr mit der Bahn zurück nach Hause zu den Kindern. -
Jenny und Endres teilten sich auf. Endres wollte Alex abpassen und ihn nach dem Namen des Hocas fragen. Jenny wollte versuchen, die schlechte Nachricht Steffi zu überbringen.
An Endres vorbei gingen die beiden Rettungsdienstler, die Abdel Waarit in die Klinik gebracht hatten. Er hörte, wie die Frau den Mann fragte : "Na denkst du, er schafft es?" und sie die Antwort erhielt :" Du hast den Arzt doch gehört - richtig schweres SHT, GCS 4...." Endres sah, wie die Trage mit Alex hereingerollt wurde. Die Rettungsdienstmitarbeiter mussten vor der Übergabe in der Notaufnahme warten. Diese Gelegenheit nutzte Endres, um seinen Kollegen anzusprechen :"Alex?" Er nahm seine Hand und versuchte es noch einmal :"Alex?" Alex schlug kurz die Augen auf, schaute durch Endres hindurch und schloss sie wieder. Der Notfallsanitäter lächelte: "Da werden Sie keinen Erfolg haben! Dr. Seywald wusste ja, was hier los ist und war großzügig mit dem Ketamin und Dormicum...in einer Stunde, frühestens..." Endres sah auf den schlafenden Alex. In dessen Gesicht waren Spuren des Kampfes zu sehen, auch seine Hände waren verschrammt. Endres schmunzelte, er gönnte Alex ja die Ruhe - und ging Jenny suchen. -
Er fand sie, kurz bevor sie an dem Zimmer ankam, in dem Steffi - inzwischen auf einer normalen Station - lag. Sie grüßten die Kollegen, die sie bewachten und zücken ihren Ausweis. Auf ein "Herein", betraten beide das Zimmer
"Hallo, schön, dass es dir besser geht," begann Jenny das Gespräch, während Endres zwei Stühle holte.
"Ja, elhamdulillah, ich fühle mich viel, viel besser. Wenn ich jetzt nur keine Angst haben müsste, dass Deniz mich findet..." gestand sie. Sie sah die beiden Polizisten an:
"Habt ihr ihn?" Endres und Jenny sahen sich an. Jenny nickte leicht. Sie griff nach Steffis Hand, die das zuließ.
"Ja. Aber..." Steffi erriet an Jennys Verhalten, was Fakt war:
"Er ist tot?!" Sie brach in Tränen aus, schluchzte laut auf und flüsterte dann den Satz, den Jenny schon von Tareq gehört hatte, aber immer noch nicht verstand.
"Es tut mir wirklich sehr leid," bekundete Jenny ihr Mitleid, Endres nickte:
"Mir auch!"
Unter Tränen sprach Steffi ihre Gedanken aus :"Ich habe ihn nicht erst heute verloren. Der Mann, den ich liebte, ist schon vor Monaten von mir gegangen. Aber etwas aus der Zeit vor der Veränderung wächst in mir." Sie legte die Hände auf ihren Unterbauch."Ich habe noch eine Frage: Bevor er starb, hat Deniz Tilidin zu sich genommen... was meinst du, woher er das hatte?" Steffi sah Jenny entsetzt an :
"Oh nein! Ich dachte, die Fläschchen wären alle leer?! Die waren noch von seinem Großvater. Der hat das schon vor Jahren gegen die Schmerzen bei einem üblen Bandscheibenvorfall bekommen. Aber er hat es nicht so gut vertragen und deshalb gesammelt...Als er starb, hat Deniz alles Mögliche von ihm mit zu uns gebracht, eben auch die Medikamente. Als Erinnerung, meinte er. Ich wollte das gerne wegwerfen, aber er war total dagegen" Sie schwiegen einen Moment, bis Steffi fragte :".....wissen meine Schwiegereltern schon Bescheid?" Jenny schüttelte den Kopf.
"Nein, wir wollten einen Seelsorger mitnehmen. Aber das Kriseninterventionsteam hat nur eine Vereinbarung mit einer muslimischen Seelsorgerin, die gerade im Einsatz ist." Steffi lehnte sich im Bett zurück.
"Holen Sie Ibrahim Güner. Wenn Sie sich beeilen, finden Sie ihn jetzt noch in der Moschee in der Wilhelmstraße. Er spricht auch sehr gut Deutsch..." -
Jenny und Endres trafen Ibrahim Güner beim Abschließen des Moscheegebäudes an. Sie stellten sich vor, worauf hin der Hoca leicht amüsiert lächelte :
" Also ich weiß ja, dass man sich auch bei der Polizei für den Islam interessiert. Aber der Andrang in meiner Moschee heute ist schon besonders. Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Können wir drinnen sprechen," bat Endres. "Natürlich," stimmte der Imam zu und schloss wieder auf. Er bat seine Gäste in das Büro neben dem Eingang. Ganz beiläufig fragte er : "Wo ist denn Semir? Hoffentlich schon zu Hause, bei seiner Familie?"
"Leider nein. Herr Güner, kennen Sie Deniz Ceylan?"
"Ja.Ihn und seine ganze Familie. Danach hat mich Semir heute aber auch schon gefragt. Ich habe ihm und seinem Kollegen schon alles gesagt..."
"Herr Güner, Deniz Ceylan und Yves Signet alias Abdel Waarit hatten für heute Abend einen terroristischen Anschlag geplant. Sie haben Semir und Herrn Brandt teilweise schwer verletzt, als die das verhindern wollten." Jenny sah auf ihre Hände, während Endres sprach.
"Ya Allah!" Der Imam war sichtbar schockiert. "Darum ist Semir nicht zu Hause! Er ist schlimm verletzt worden und Sie waren dabei," sagte der Imam zu Jenny, denn ihm waren das Blut auf ihren Schuhen, die sie vorne abgestellt hatte, ihre seltsame Kleidung und ihr Blick auf die Hände nicht entgangen. Sie schüttelte den Kopf.
"Nein. Ich kam dazu, als er schon am Boden lag. Ich habe gewartet, bis der Notarzt da war."
"Wie geht es ihm?" Die Sorge des Hocas klang echt. Endres schüttelte den Kopf
"Er ist in der Klinik. Mehr wissen wir auch nicht. Aber wir sind nicht wegen ihm hier: Im Laufe der Auseinandersetzung mit uns und Polizisten des LKA ist Herr Ceylan so schwer verletzt worden, dass er noch vor dem Transport in die Klinik verstorben ist." Mit großen Augen sah er die Polizisten an. Dann sprach Ibrahim Güner:
"Inna lillahi we Inna ilaihi raji'un."
"Bitte," fragte Jenny
"Wir gehören Gott und zu ihm kehren wir zurück," seufzte der alte Mann.
"Nach dem Semir das nicht tun kann, möchten wir Sie bitten, mit uns zusammen der Familie die schlechte Nachricht zu übermitteln."
"Natürlich, natürlich."
"Seine Frau haben wir bereits persönlich informiert. Aber die Eltern..."
"Lassen Sie uns gehen," forderte der Hoca die beiden Polizisten auf, die sich über die Eile wunderten. Der alte Mann holte noch schnell einen Umhang und eine Mütze. Dann stieg er in sein Auto und fuhr zu den Ceylans.
Als Frau Ceylan die Tür öffnete und den Hoca in Begleitung der beiden Polizisten sah, war ihr sofort klar, dass Deniz nicht mehr lebte. Ihr lauter, markdurchdringender Schmerzensschrei hallte in dem dunklen Treppenhaus wider. Jenny, die schnell ihre Schuhe abgestreift hatte, fing die Frau auf, bevor sie ganz zu Boden fiel. Sie stützte Deniz Mutter, die weiterhin laut nach ihrem Sohn rief. Jenny ging mit ihr in die Küche, wohin auch Aylin kam. Endres und der Imam widmeten sich dem Vater, der ebenfalls zu weinen begann.
"Ich habe ihn nicht mehr verstanden. Ich dachte, er ist traurig, weil sein Dede gestorben ist. Ich dachte, er ist wütend, weil er seine Arbeit verloren hat und keine mehr fand. Aber nein, ich habe ihn nicht verstanden..." Der Mann weinte und Endres setzte sich einfach nur ruhig neben ihn. Nach kurzer Zeit stellte der Vater Fragen nach den Umständen des Todes seines Sohnes, die Endres ihm so gut wie möglich beantwortete. Auch in der Küche erzählte Jenny von den letzten Stunden des Sohnes und Bruders. Dass sie auf ihn geschossen hatte, verschwieg sie. Aylin wirkte deutlich gefasster als ihre Mutter.
"Weiß es Ruqiya schon?" Jenny nickte:"Ihr habe ich es als erstes gesagt."
"Wie geht es ihr? Wo ist sie? Wie geht es dem Baby?" "Baby?" auf einmal ging ein Ruck durch Aylins Mutter, die teilnahmslos am Tisch gesessen hatte.
"Ja. Ruqiya ist schwanger. Und Deniz wollte trotzdem mit ihr in den Krieg nach Syrien." Ihre Mutter schüttelte nur noch weinend den Kopf, immer wieder "Hayir, hayir" (Nein, nein) murmelnd. Jenny stellte ihr ein Glas Wasser hin. Die ganze Sorgen der letzten Stunden und Tage brachen aus Aylin heraus.
."Aber Ruqiya wollte nicht. Sie wollte ihr Kind hier bekommen, eine Familie mit uns sein. Aber die Leute, die bei Deniz das Gehirn versaut haben, sind total sauer auf sie. Weil Deniz nicht nach Syrien ist - heute Morgen hat man auf mich und Canan geschossen... Die dachten bestimmt, dass ich Ruqiya wäre..." sprudelte es aus ihr heraus. Die Mutter schüttelte nur weiter weinend den Kopf. Jenny legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter.
"Das ist alles wahr, leider," stimmte sie zu. "Wir kümmern uns weiter um Ihre Freundin," versprach Endres, der gerade herein kam.
"Lass uns gehen. Herr Güner kümmert sich."
"Können wir sie alleine lassen," fragte Jenny die beiden Frauen. Aylin nickte und hielt ihre Mutter eng umschlungen.
"Die sind total geschockt," bemerkte Jenny auf dem Heimweg. Endres stimmte ihr zu: "Ja, da war kein " Stolz auf meinen Sohn, den Märtyrer" oder was man sonst schon so gehört hat. Einfach nur - tiefe, dunkle Trauer." -
Semir hatte die letztlich doch über 8 stündige Operation überstanden. Kurz bevor Andrea am frühen Morgen zurück kam, hatte man ihn auf die Intensivstation verlegt. Die Pflegekraft war gerade noch dabei, alle Kabel und Schläuche vom Transport zu ordnen und anzuschließen. Über eine Batterie an Perfusoren erhielt er Schmerz- und Betäubungsmittel. Sie hielten ihn in einem tiefen künstlichen Koma, die Maschine übernahm das Atmen für ihn. Vom Monitor führten Kabel zu den EKG-Elektroden, dem Oxymeter und der Blutdruckmanschette. Ein Infusionsschlauch endete in Semirs rechter Hand, ein weiterer im ZVK am Hals. Links und rechts an seinem Bett fingen mehrere Beutel den Urin aus dem Blasenkatheter und Wundflüssigkeit aus den Drainagen auf. Um seinen Kopf war ein Verband, aus dem weitere Kabel ragten. Andrea schauderte. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihren Mann nach einer schweren Verletzung so sah. Aber über die mit Pflaster verklebten Augen, unter deren Lidern eine weißliche Substanz hervortrat, erschrak sie sehr. Und es war das erste Mal, dass der Beatmungsschlauch nicht in seinem Mund sondern am Halsansatz endete. Was hatte das zu bedeuten? Andrea sah sich Hilfe suchend um.
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Auch auf der PASt hatte ein neuer Tag begonnen. Frau Krüger und die Kollegen des LKA trafen sich mit Hartmut, Jenny und Endres zu einer Besprechung.
"Nun, meine Herren," begann Frau Krüger mit Blick auf die Kollegen vom LKA:
"Ich muss Ihren Leuten Lob aussprechen - auf der operativen Ebene scheint die Zusammenarbeit deutlich besser zu funktionieren... Ich hoffe, wir bekommen das zukünftig genauso gut hin." Der Wichtigtuer von gestern nickte plötzlich beflissen.
"Ja, das hoffen wir auch," sagte er und auch Herr Weinzierl nickte. Sie besprachen die Ereignisse des letzten Tages.
"Wir haben eine Mitteilung aus Belgien bekommen. Top-Secret natürlich. Auf jeden Fall fehlen seit Anfang des Jahres mehrere Militärpistolen mit 5,7x28mm Munition. Wir konnten aber nur eine Pistole sicherstellen..." Die Ausführung des LKA-Mannes wurde unterbrochen durch Susanne. Sie meldete, dass die Polizeidirektion Köln nun die Polizisten vor Steffis Krankenzimmer abziehen wollten. Frau Krüger schüttelte den Kopf, während Herr Weinzierl aufstand und sagte:
" Lassen Sie mal! Ich kümmere mich drum. Noch haben wir die Hintermänner nicht. Die Frau ist also weiterhin in größter Gefahr!" Alle nickten. Hartmut flüsterte Jenny zu:
" Genau das habe ich mir auch gedacht! Das kann ich doch nicht zulassen... " Er zeigte Jenny einen Artikel in der online-Ausgabe der Zeitung. Darin stand, dass gestern zwei junge Frauen auf der Autobahn erschossen worden waren und dies zu einem Stau geführt hatte.
."Fake news," grinste Jenny. "Aber wenn das raus kommt..." "Dass irgendwer die Website der Zeitung gehackt hat... ach, die Kollegen von der LKA-Cybercrime-Abteilung haben echt viel Wichtigeres zu tun..." Jenny sah den Rotschopf bewundernd an. Doch Hr. Weinzierl erschien wieder und Hartmut berichtete von seinen Ergebnissen:
"Wir haben in der Gartenhütte Spuren gefunden, die darauf hinweisen, dass es mindestens drei Sprengstoffwesten geben muss: An der Sprengstoffweste von Abdel Waarit gab es keinen Raspberry. Den haben wir aber nirgendwo sonst gefunden."
"Wer hat die Bomben eigentlich gebaut?"
"Ich bin noch ganz am Anfang, " gab Hartmut zu. "Aber die letzte Änderung auf dem Raspberry ist von vor vier Tagen." Deniz Ceylan ist ausgebildeter Bürokaufmann und sollte nach Syrien, Abdel Waarit hat zwar die Fähigkeiten, war aber da noch in Syrien," dachte Endres laut nach.
."Was ist denn mit Bayram Kader" fragte Frau Krüger. Alle schüttelten den Kopf. " An dem waren wir schon mehrfach dran - aber wir haben nie etwas Konkretes gegen ihn in der Hand gehabt. Aber - Moment - ich weiß nicht, ob wir alle auf dem gleichen Stand sind," erwähnte Herr Weinzierl erstaunlich kooperativ und tippte auf dem Laptop herum, bis der Beamer flackerte. Hartmut stellte ihn scharf und Jenny holte Susanne hinzu.
"Bayram Kader, geboren 1975 in Kilis, Türkei. Der türkische Vater arbeitete seit 1966 im Ruhrgebiet, holte 1979 seine arabische Frau und seine 3 Kinder nach. Der Vater hatte scheinbar großes kaufmännisches Talent und erwirtschaftete mit Import - Export den Lebensunterhalt. Seine beiden Söhne führten nach dem Tod des Vaters 2000 das Geschäft weiter, wobei Bayram Kader sich mehr auf Immobilien spezialisierte und stets jemand war, der eher im Hintergrund agierte. Er wird seit 2009 mit der salafistischen Szene in Verbindung gebracht und vom Verfassungsschutz beobachtet, weil er entsprechend auffällige Organisationen großzügig unterstützt hat. "
Auf der weißen Wand des Besprechungsraumes sah man die Passfotos und ein paar eher unscharfe Bilder eines Mannes mit dunklem, handbreitem Bart, Häkelmütze und weißem langen Hemd auf der Straße vor der Al-Aqsa-Moschee.
"Er ist seit 2005 verheiratet mit Rima Bari, geboren 1983 in Köln. Die Ehe ist kinderlos." Auf der Wand erschienen Bilder einer Frau mit schwarzem Kopftuch, runden schwarzen Augen und etwas großer Nase. Ebenfalls zu sehen war ein Bild einer bis auf die Augen komplett in dunkelblauem Stoff verhüllten, eher kleinen Frau in einer Fußgängerzone im Gespräch mit einer anderen Frau.
"Ich denke die Lage hat sich geändert, wenn wir ihn klar mit den Anschlägen in Verbindung bringen können und das können wir doch Herr Freund oder," fragte der Wichtigtuer. "Na ja," wich Hartmut aus, " ich bin noch nicht mit meinen Analysen fertig ich weiß - Dank der schnellen und guten Zusammenarbeit mit dem Provider - nur, dass die Anweisungen für den Anschlag von einem Rechner aus der Wohnung von Bayram Kader kamen. Wer sie wirklich abgesetzt hat, weiß ich nicht! " -
" Endres, Dorn! Fahren Sie zu der Wohnanschrift von Bayram Kader und holen Sie ihn zur Vernehmung," wies die Chefin ihre Leute an."Vorsichtshalber sollten Sie vorher an seinem Wagen einen Peilsender anbringen," fand der Wichtigtuer. Herr Weinzierl schob Jenny einen kleinen knopfförmigen Gegenstand zu. " Auf ihn zugelassen ist ein silberner Honda Accord, Kölner Kennzeichen." "Wann ist denn dieser Abdel Waarit wieder ansprechbar," wollte junge Wichtigtuer wissen." "So schnell dürfte das nicht gehen. Gestern Abend war die Rede von einem schweren Schädel-Hirn-Trauma. Der Wachmann hat ihn wohl gut erwischt," stellte Endres in der Tür stehend fest.
Am Ende des Ganges kam eine junge Ärztin gerade zur Tür herein. Andrea hatte Glück: Es war die diensthabende Stationsärztin. Sie rieb sich die müden Augen, freute sich sehr auf die Ablösung in 2 Stunden. Dennoch erklärte sie Andrea geduldig, was passiert war: Die erste Kugel hatte eine Rippe und die Lunge verletzt. Das hatte zu einem Hämatopneumothorax geführt, den man in der OP aber hatte beseitigen können. Die Kugel war weiter eingedrungen und hatte Milz und Darm verletzt. So war neben Blut auch Darminhalt in den Bauchraum geflossen. Man hatte in der OP den Bauchraum spülen müssen und hoffte nun, dass das Antibiotikum eine lebensgefährliche Entzündung verhindern konnte. Die zweite Kugel war tatsächlich in den Oberschenkelknochen eingeschlagen und hatte dort für weitere Blutungen gesorgt. Der Oberschenkelknochen war durch den Einschuss so labil geworden, dass sich die Ärzte zu einer Schienung mit einer schmalen Metallplatte entschieden hatten. "Alle Werte sind soweit zufriedenstellend. Insbesondere wenn man bedenkt, dass er in sehr kritischem Zustand in den OP kam. Aber, Frau Gerkan, da ist noch etwas: Durch den Aufprall mit dem Kopf auf den Boden und eine Blutdruckschwankung bei der Einlieferung hat Ihr Mann eine Hirnblutung und dadurch einen deutlich zu hohen Hirndruck erlitten. Die Blutung ist nicht besonders groß, aber - wie wir im CT sehen konnten - sitzt an einer Stelle, an die wir nicht ohne die Gefahr schwerer Schäden heran kommen. Wir überprüfen den Hirndruck mit einer neuartigen, nichtinvasiven Methode, die in Israel und Stuttgart entwickelt wurde. Ansonsten können wir nur abwarten und versuchen, den Körper so gut wie möglich zu entlasten und zu unterstützen. Das gelingt uns mit engmaschiger Überwachung, der Narkose und der Beatmung. Wir werden das mit Sicherheit einige Tage so aufrecht erhalten müssen. Ihr Mann befindet sich in sehr tiefer Bewusstlosigkeit. Er kann keine äußeren Reize wahrnehmen, Sie nicht hören oder spüren. Die Tracheotomie erleichtert dabei die Beatmung, die Pflege und vor allem das spätere Entwöhnen von der Maschine. Auch gibt es so keine Schäden an Stimmbändern und Kehlkopf. Für Sie selbst ist es sicherlich auch angenehmer, wenn Sie sein ganzes Gesicht sehen können....“ Das stimmte zwar, aber das nun gewonnene Hintergrundwissen mit der Unsicherheit war überaus schmerzhaft für Andrea.
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„Was ist mit seinen Augen?“
Die Ärztin blickte kurz durch das Fenster zu Semir und sah, wie die Pflegekraft die Pflaster an den Augen wechselte.
„Für die OP, die ihr Mann hinter sich hat, waren Medikamente notwendig, welche die Muskulatur erschlaffen lassen. Auch fehlt durch die Narkose der Lidschlussreflex. Dadurch kann es vorkommen, dass sich die Augen während der OP oder dem jetzt eingeleiteten Koma etwas öffnen und austrocknen. Dem beugen wir durch eine Augensalbe und das Zukleben vor.“
Andrea atmete tief durch. Wenigstens da schien alles in Ordnung zu sein.
„Und das mit der Hirnblutung...Kann man da so gar nichts tun...“
„Nun, im Moment ist der Hirndruck so, dass er unter den gegebenen Bedingungen toleriert werden kann. Wenn sich das verschlechtert, müsste man über eine Schädelöffnung...nein, daran wollen und brauchen wir jetzt nicht denken,“ sagte die Ärztin und nahm Andrea an der Schulter.
„Wollen Sie noch einen Kaffee? Ich hab noch so viel übrig und ich würde ihn zu Hause nur wegschütten...“ Andrea nickte dankbar. Nach der Tasse lauwarmem Kaffee aus der Thermoskanne setzte sie sich zu Semir. Sie nahm die Hand, an der das Pulsoxymeter war. Dabei kam ihre ganze Verzweiflung hoch:
„Einige Tage, Schatz! Was heißt das? Was soll ich den Kindern sagen?“ Sie zog die Luft zwischen den Zähnen ein. Hirn, Lunge, Milz, Darm und Oberschenkel. Jede Verletzung an sich war geeignet, ihr den Mann zu nehmen oder zumindest den Mann, den sie auf der PASt kennengelernt hatte. Sie strich ihm sanft über das Gesicht: „Mein Herz.“ Die Ärztin hatte Recht gehabt – es war ein kleiner Trost, sein ganzes Gesicht sehen und berühren zu können. Aber diese zugeklebten Augen...
„Selbst wenn er wollte, wenn die Verletzung es zuließe, er könnte mich jetzt gar nicht ansehen,“ schossen ihr die Gedanken durch den Kopf. Sie dachte an die glühenden, liebevollen Blicke, mit denen er sie angesehen hatte. Sie hatte das Gefühl, man wolle ihr diese Augen nehmen und empfand es als brutal, einem Wehrlosen die Augen zu verschließen, auch wenn sie wusste, dass es nur zu seinem Besten war. -
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