Donnerstag: 04. Mai 2017, später Nachmittag
Es war schon sechs Uhr an diesem grauen Abend im Mai, als er den Friedhof betrat. Er ging langsam über das Gelände und hockte sich vor das Grab, in das seine Frau und seine Tochter ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Die in der Vase verwelkten Blumen zog er raus und tat den frischen Strauß rein. „Ich vermisse euch so. Wenn ich damals doch nur besser aufgepasst hätte. Dann wäret ihr noch bei mir und ich hätte nie den Halt im Leben verloren. Aber ich weiß, dass ich es irgendwann schaffe von der Straße zu kommen. Eines Tages werdet ihr stolz auf mich sein. Ich bin mir ganz sicher, dass ich es schaffen kann.“ versprach er und strich sanft über den großen Grabstein, der das Familiengrab zierte. Irene und Josefine Moppe stand auf dem Stein. Darunter waren Geburts- und Todesdaten eingraviert. Irene war gerade 35 Jahre und Josefine, die von ihm nur Josie genannt wurde, gerade mal 6. Er erinnerte sich an diesen verhängnisvollen Tag. Stefan war mit seiner Familie gerade auf dem Rückweg von einem wundervollen Ausflug und während der Fahrt stritt er sich mit Irene über völlig unnötige Dinge. Ein Wort gab das Andere und er konzentrierte sich nicht mehr voll auf den Verkehr. Er missachtete die Vorfahrtsregeln und so kam es, dass er einen LKW, der aus der Seitenstraße kam, übersah und dieser seinen PKW rammte. Irene war, genau wie Josie, sofort tot. Acht Jahre war es jetzt schon her, doch es tat ihm immer noch weh. Und immer noch sah er die Bilder des Unfalls so klar, als wäre es gestern gewesen. „Ich liebe euch…“ sagte er leise und stand auf um nach Hause zu gehen. Auf den Weg zur Bahn, die ihn wieder zum Kölner Flughafen bringen sollte, kam er am Restaurant „Zum goldenen Rock“ vorbei und bemerkte, dass auf dem Parkplatz des Restaurants mehrere Fahrzeuge standen. Es war sonderbar, denn das Restaurant öffnete erst in drei Stunden. Sechs Männer standen bei den Wagen und unterhielten sich, den Gesten nach, hektisch. Hören konnte er nichts. Sein Magen knurrte laut und vernehmlich, was ihn nicht wirklich wunderte. Immerhin hatte er schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Vielleicht hatte der Betreiber des Restaurants ja schon die Reste entsorgt. Wie oft hatte er hier schon richtig gute Dinge finden können. Er ging auf die Mülltonnen zu und sah hinein. Gerade als er zugreifen wollte, kam einer der Köche aus dem Restaurant und sah ihn. „Verpiss dich, du dreckiger Penner!“ schrie er Stefan an, der sofort das Weite suchte. Doch er hatte in den fünf Jahren, die er auf der Straße lebte, gelernt, nicht aufzugeben und so ging er auf die Gruppe der Männer zu. Als er bei ihnen war, streckte er seine Hand aus. „Habt ihr mal einen Euro für mich?“ bettelte er leise und sah die Männer demütig an. Plötzlich stutzte er. Einer der Männer war ihm nicht unbekannt. Schnell senkte er seinen Blick und wartete. „Hier und jetzt verpiss dich!“ maulte der Mann. Stefan erkannte die Stimme, doch er ließ es sich nicht anmerken. Er sah, dass der Mann ihn 10 Euro gegeben hatte. „Vielen Dank! Möge Gott euch schützen… Ihr seid sehr großzügig.“ murmelte er und verschwand. Noch einmal sah er den Mann an, der nicht einmal Notiz von ihm nahm. Er war es! Es war tatsächlich Angelface! Wie konnte das sein? Angelface war tot! Er starb doch vor seinen Augen, aber es gab keinen Zweifel. Das dort war Angelface! Anstatt zur Bahn zu gehen, ging er wieder in Richtung Restaurant, um sich nur wenig später in die Büsche zu schlagen und sich wieder in die Nähe der Männer zu bringen. Er musste wissen, was dieser Mann hier wollte. Ohne von den Männern gesehen zu werden, konnte er beobachten, wie Angelface eine Schachtel in der Nähe der überdachten Tonnen abstellte, wieder zu seinen Freunden ging und nur wenig später abfuhr. Stefan überlegte eine Weile. Sollte er nachsehen, was in der Schachtel war? Was wenn die Männer zurückkamen? Wenn sie ihn erwischten? Nein, entschloss er und ging zur Bahn. Als er den Bahnsteig erreichte, kam gerade die S11 angefahren. Er stieg ein und überlegte während der halbstündigen Fahrt, was er nun unternehmen konnte. Er musste Semir informieren. Ja, das war das einzig richtige. Er musste ihm sagen, das Angelface noch lebte. Er stieg am Flughafen aus und ging auf den ausrangierten Terminal zu, der mit Hilfe von der Stadt Köln zu einer Auffangstation für Obdachlose und Drogensüchtige geworden war. Das war sein Zuhause. Er lachte leise, sein Zuhause war ein winzig kleiner Bereich in dieser Halle, nur eine kleine Ecke, die durch zwei Styroporwänden von dem Rest getrennt war. Gerade groß genug um eine Matratze hinein zu legen. Es sollte ihm das Gefühl geben, etwas Privatsphäre zu haben. Die große Uhr in der Halle zeigte ihm, dass es schon halb zehn war. Er zog sein Handy, was Semir ihm geschenkt hatte, hervor und wählte den Polizisten an.
Semir hatte heute seinen freien Tag und einiges mit seinen Kindern unternommen. Jetzt lagen Ayda und Lilly im Bett und Dana war für eine Woche im Schullandheim in Münster. Er und Andrea saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer und sahen auf den Fernseher, der gerade einen sehr alten Psychothriller zeigte. Andrea schmiegte sich eng an ihn, zuckte hin und wieder zusammen oder hielt ihn krampfhaft fest. Er grinste leicht, nahm ihre Hand und küsste sie. „Das du dich darüber noch erschrecken kannst. Den Film hast du doch sicher schon 20-mal gesehen.“ tadelte er. „Na und? Der Film ist auch nach dem 20igsten Mal sehenswert.“ lachte sie. „Egal wie oft ich diesen Streifen schon gesehen habe, ich bin immer wieder fasziniert davon, wie böse Vögel sein können. Denkst du, sowas könnte wirklich passieren?“ Sie sah ihn mit einem spitzbübischen Grinsen an und Semir stöhnte leise auf. „Andrea, das ist doch alles nur ein Film. Sowas würde niemals in der Realität vorkommen. Das ist alles nur gespielt.“ Doch nun schüttelte Andrea heftig den Kopf. „Nein, die Angst von dieser Tippi Hedren, also die Frau da, die ist echt. Ich habe mal gelesen, dass Hitchcock seiner Schauspielerin tatsächlich lebende Tiere an der Kleidung befestigt hat, damit es echt aussieht. Hitchcock soll eine richtige Bestie gewesen sein. Die arme Tippi musste ganz schön gelitten haben. In einem Interview sagte sie sogar, dass sie fast ein Auge bei den Dreharbeiten verloren hätte, weil ein Vogel ihr ins Gesicht pickte. Schlimm ist sowas. Ich meine, was würdest du tun, wenn wir auf dem Rhein wären und dann kommt da so ein Vogelvieh und greif uns an?“ Sie sah ihn ernst an. Semir zog die Schultern hoch. „Ich ziehe meine Waffe und knall das Vieh ab.“ meinte er nur. Andrea schüttelte lachend den Kopf und sah wieder auf den Fernseher. Sein Handy klingelte und ihr Blick sagte ihm, dass sie es nicht gut fand. „Du hast frei, denk daran!“ knurrte sie leise. Er küsste sie sanft. „Nur keine Sorge, niemand kann mich heute von deiner Seite bringen.“ versprach er und sah auf das Display. „Das ist Sam!“ stieß er aus und meldete sich mit „Hallo?“ „Semir, ich bin es Stefan! Ich brauche deine Hilfe. Er wird mich umbringen, wenn er weiß, dass ich ihn erkannt habe.“ kam völlig verängstigt von seinem Informanten. Semir löste sich von Andrea und verließ das Wohnzimmer. „Wer? Was ist los, Stefan?“ hakte er nach. „Ich kann dir das nicht am Telefon sagen. Lass uns morgen treffen. Bitte, du musst mir helfen. Ich brauche dich wirklich. Lass mich nicht hängen, bitte.“ flehte der Informant. Semir sah kurz zu Andrea, die auf den Fernseher starrte. „Sag mir wenigstens, wen du meinst. Wer wird dich umbringen?“ bat Semir ihn. Er spürte, dass die Angst des Informanten echt war. Er kannte Stefan gut genug und wusste, dass dieser kein Angsthase war. Bevor Stefan auf der Straße landete, war er ein sehr erfolgreicher und draufgängerischer Privatdetektiv. „Angelface! Er lebt noch! Ich habe ihn heute gesehen.“ erklärte Stefan panisch und Semir rollte die Augen. „Stefan, Rolf Wagner ist tot. Er ist doch in seinem Auto verbrannt. Du warst dabei!“ widersprach er. Stefan fiel ihm ins Wort. „Ja, das dachte ich bis heute auch. Aber er war es! Es war dieser Wagner. Ich bin mir ganz sicher. Bitte glaube mir! Lass uns Morgen um sechs treffen. Wie immer auf dem Parkplatz. Bitte lass mich nicht hängen.“ flehte Stefan erneut. Semir ging auf den Flur, klemmte das Handy zwischen Schulter und Kopf ein und zog sich die Schuhe an. „Pass auf, ich hole dich direkt ab. Wenn du hier bist, dann bist du auf jeden Fall sicherer.“ schlug er vor, doch sein Informant lehnte ab. „Nein, ich bin sicher. Angelface wird sicher nicht hierherkommen. Ich will nicht, dass deine Familie deswegen in Gefahr gerät. Morgen früh um sechs.“ bat Stefan erneut und Semir stimmte zu. „Okay, morgen um sechs.“ Stefan beendete das Gespräch und Semir ging nachdenklich zu Andrea zurück, die ihn sofort fragend ansah. Er erklärte ihr, dass er sich morgen vor Dienstbeginn mit Sam treffen wollte. „Um was ging es denn?“ Semir zog die Schultern hoch. „Er glaubt jemanden gesehen zu haben, der eigentlich schon lange tot ist. Ich sehe aber auch keinen Grund, weshalb er mich anlügen sollte. Und betrunken klang er nicht.“ Andrea gab sich mit der Erklärung zunächst zufrieden und sah wieder auf den Fernseher. „Wer soll denn der Tote gewesen sein?“ hakte sie nach einer Weile nach. „Angelface…“ murmelte Semir.