Semir lag seit Stunden in seinem Bett und schlug sich immer wieder auf sein taubes Bein. Immer wieder ging er mit seiner Hand hin. Er wusste und spürte das Bein mit der Hand, doch in seinem Bein war nichts von der Berührung zu merken. Es war, als würde er ein Stück fremdes Fleisch anfassen. „Beweg dich… bitte beweg dich! Lass mich nicht im Stich…“ flehte er leise. Nichts. Vielleicht konnte er doch mit Krücken laufen. Er musste es versuchen! Er musste hier weg! Entschlossen warf er die Decke zur Seite und setzte sich auf. Mit der rechten Hand zog er sich das taube Bein vom Bett und ließ es zunächst runterbaumeln. Nun griff er die Krücken. Als er sich jedoch aufstützten wollte, zog ein scharfer Schmerz durch seine linke Schulter. Er brauchte einen Augenblick bis er den Schmerz verarbeitet hatte. Dann stellte er sein rechtes Bein auf den Boden, griff die Krücken erneut und schleppte sich so langsam durch den Raum. Als er die Badezimmertür erreicht hatte, glaubte er, einen Marathon gelaufen zu sein. Die Schmerzen in der Schulter wurden stärker, doch er ignorierte sie. Sehr langsam ging es zur Tür und er versuchte sie zu öffnen, doch sie war, wie Klinke schon sagte, verschlossen. Okay, denk nach Semir… wie kannst du hier raus? Vielleicht gab es später eine Möglichkeit. Er musste den Arzt überwältigen, wenn er wieder zu ihn kam. Er schleppte sich mühsam zur Toilette, verrichtete sein Geschäft und wusch sich anschließend die Hände. Dabei sah er in den Spiegel und stellte fest, dass sein Gesicht aschfahl war. Die Augen lagen tief in den Höhlen und seine Lippen waren spröde. Wieder schleppte er sich zum Bett und setzte sich auf die Kante. Nun ging das Prozedere wieder los. Er packte sein Bein und legte es aufs Bett. Dann stellte er die Krücken wieder in die Halterungen am Bett zurück und zog das zweite Bein hoch. Mit dem rechten Ellbogen robbte er nach oben und setzte sich noch einmal hin um die Decke an sich zu ziehen und in diesem Augenblick spürte er nur dumpf ein kribbelndes Gefühl in seinem tauben Bein. Das Gefühl kam zurück! Er hätte jubeln können. Jetzt musste er nur auf den geeigneten Augenblick warten, um zurück zu schlagen. Der Arzt würde sich wundern. Der würde ihn nicht ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Sobald sein Bein wieder das tat, was er wollte, konnte er entkommen. Jetzt musste er nur die entsprechende Geduld aufbringen.
In der Rechtsmedizin stand Marvin Traber weit vor seinem Dienstbeginn in den kalten Räumen. Er hatte eine sehr schlechte Nacht hinter sich, denn der Vorfall gestern hatte ihn sehr getroffen. Noch einmal zog er die Trage mit der verkohlten Leiche heraus. „Hör mal, wir können einen Deal machen. Du verrätst mir, wer du bist und ich sorge für eine ordentliche Beerdigung. Was hältst du davon?“ sprach er mit der Leiche. Natürlich erhielt er keine Antwort und stöhnte leise auf. „Okay, dann schau ich mir noch mal den Magen an. Ich muss etwas finden, das mir sagt, dass du nicht mein Freund warst. Nimm es nicht persönlich, aber ich wünsche mir einfach, dass er noch lebt. Ich habe wirklich nichts gegen dich.“ erklärte er leise. Er nahm den Magen aus der Kühlung und legte ihn auf den Organtisch. Tom hatte den Magen zwar schon untersucht, aber er hoffte dennoch etwas zu finden, was der Student übersehen hatte. Er zerlegte das Organ in seinen Einzelteilen. Nach einigen Minuten fand er tatsächlich etwas. An der Magenwand kurz vor dem Durchgang zum Darm hing ein kleiner Fetzen von Nahrung. Nicht ganz zersetzt und vielleicht konnte man ihn untersuchen. Marvin schnitt es vorsichtig heraus. Er legte es auf einen Träger und schob es unter das Mikroskop. Er vergrößerte das Etwas und stieß einen Jubel aus. Sofort griff er zum Telefon und wählte Alex an. „Brandt.“ hörte er am anderen Ende. „Alex, ich bin es, Marvin. Ich habe einen winzigen Beweis, dass es nicht Semir ist! Hörst du?“ Es schepperte am anderen Ende und nur wenig später hörte er die Stimme von dem Partner seines Freundes. „Sorry, mir ist das Handy aus der Hand gefallen. Bist du sicher?“ kam die etwas unsichere Nachfrage. „Beantworte mir eine Frage, wann hat Semir schon mal Schwein gegessen?“ wollte Marvin wissen. „Noch nie! Er ist doch Türke und wenn er eine Macke davon hat, dann die, Schwein zu meiden.“ stieß Alex aus. „Eben! Aber ich habe eben im Magen noch etwas Fleisch gefunden. Also ein Fetzen um es genau zu nehmen und den habe ich untersucht…es ist eindeutig Schwein.“ „Danke für diese Nachricht. Wenn die DNA dann auch in diese Richtung geht, dann …“ antwortete Alex. Marvin beendete das Gespräch und ging wieder in den Raum, wo die Leichen aufbewahrt wurden und klopfte gegen das Fach, wo die verkohlte Leiche lag. „Egal wer du bist, ich bezahle deine Beerdigungskosten. Du wirst ein wundervolles Grab bekommen, das verspreche ich dir.“ sagte er leise und wischte sich eine Träne der Freude weg. Marvin zog seine Jacke an und fuhr nach Hause. Jetzt konnte er noch etwas Schlaf nachholen. Endlich war etwas Positives gefunden worden. Sein Freund konnte noch leben, doch wo war er und was bestand ihm bevor? Jetzt konnte er nur hoffen, dass Alex Semir bald finden würde.