Vendetta – oder die Rache ist mein
„Nun fahr schon schneller Remzi!“ drängte der junge Mann den Fahrer die Auffahrt zum Landhaus, das zu einem privaten Pflegeheim und Hospiz umgebaut worden war, hochzufahren. Ein Hinweisschild an der Grundstückseinfahrt wies den Besucher darauf hin, dass auf dem gesamten Gelände nur Schrittgeschwindigkeit erlaubt war. Kaum hatte der Ältere den schwarzen Toyota RAV4 auf dem Besucherparkplatz vor dem großen Eingangsportal eingeparkt, als Rashid ausstieg und in die Eingangshalle stürmte. Diese erinnerte von ihrer Ausstattung her, eher an den Empfangsbereich eines vornehmen Kurhotels als an den Eingang zu einem Hospiz und Pflegeheim. Die Bewohner dieser Luxuseinrichtung hatten auch ein entsprechendes Vermögen auf ihren Bankkonten.
Schwester Jutta, die auf der Hospiz-Station arbeitete und sich vornehmlich um das Wohlbefinden seines Vaters kümmerte, erwartete ihn bereits ungeduldig und eilte in der Halle auf ihn zu.
„Hallo Herr Stojkovicz, schön dass sie so schnell kommen konnten. Ihr Vater wartet schon sehnsüchtig auf sie.“
Rashid wollte an ihr vorbeistürmen, als die grauhaarige Schwester ihn am Arm festhielt. Unwillig brummte er vor sich hin und versuchte den Griff abzuschütteln. In ihrem Blick lag jedoch so etwas Bestimmendes, was ihn ermahnte, ihr zuzuhören.
„Ihr Vater ist bei klarem Verstand. Nutzen sie diesen Moment, es wird nicht mehr viele solche Gelegenheiten geben, mit ihm zu reden. Wenn sie noch was mit ihm zu klären haben, ist das vielleicht ihre letzte Chance!“
Die Worte der Schwester riefen ihm ins Bewusstsein, sein geliebter Vater war dem Tode geweiht. Sein Verstand wehrte sich gegen diese Vorstellung, dass Boris Stojkovicz nach Aussage der behandelnden Ärzte nur noch wenige Tage zu leben hatte. Der Hospizbereich lag im Erdgeschoss des riesigen Anwesens. Alle Zimmer hatten über Panorama Fenster einen weitläufigen Blick auf den angrenzenden Park, in dessen Mitte sich ein Teich mit Wasserspielen befand. Auch sein Vater starrte durch das Fenster hinaus, als Rashid leise die Zimmertür öffnete und beobachtete die Menschen, die dort im Schatten der Bäume verweilten oder spazieren gingen. Ohne dass der alte Mann den Kopf wendete, wusste er, wer eintrat. „Hallo mein Sohn! Komm setze dich neben mich!“ Rashid setzte sich auf den Besuchersessel neben dem Krankenbett. Man hatte das Kopfteil des Bettes hochgestellt und seinen Vater so gelagert, dass er bequem liegen konnte. Über eine Nasenbrille bekam er zusätzlich Sauerstoff verabreicht. Ohne das Pflegebett und die medizinische Ausrüstung hätte man glauben können, in einem Komfort-Luxus-Hotelzimmer zu residieren. Die restlichen Möbel waren allesamt aus Edelhölzern gefertigt worden. Die geöffnete Tür erlaubte einen Blick ins Badezimmer, dessen Ausstattung aus feinstem italienischem Marmor, farblich aufeinander abgestimmt, bestand.
Der junge Mann ergriff die knöcherne Hand seines Vaters, die eher an eine Klaue erinnerte und küsste diese zärtlich.
„Wie geht es dir heute Papa? Besser?“ Es war das Betteln nach einem Hoffnungsschimmer. „Lassen wir dieses Geplänkel mein Sohn! Du weißt, es wird zu Ende gehen, meine Tage sind gezählt!“
Ein Hustenanfall übermannte ihn, der Kranke japste röchelnd nach Luft und Rashid geriet schon in Versuchung nach der Krankenschwester klingeln. Eine Geste seines Vaters ließ ihn inne halten. „Wie ist es gelaufen? Erzähl mir lieber, ob die Schwester von diesem verdammten Jäger tot ist!“
Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Nein, ein paar Unfallzeugen konnten sie rechtzeitig aus dem Fahrzeug retten, bevor dieses explodiert ist. Dein Super-Experte aus Serbien ist scheinbar doch nicht so perfekt!“
Der alte Mann schloss die Augen, die tief in den Augenhöhlen lagen. Sein Gesicht verzog sich zu einer hassverzerrten Fratze. Leise stieß er ein paar derbe Flüche und Verwünschungen aus.
„Aber ich habe ein paar Videoaufnahmen gemacht Papa! Willst du Sie dir ansehen?“ meinte Rashid, um Versöhnung heischend, zog sein Handy aus der Hosentasche und startete das Video. Als die Szene kam, wo Ben Jäger auf das brennende Auto zu rannte und hilflos schrie, fing der alte Mann bösartig an zu lachen. Der nächste Hustenanfall stoppte ihn. Keuchend und nach Luft ringend lag er in seinem Krankenbett. Die Verzweiflung des jungen Polizisten verschaffte ihm eine gewisse Genugtuung.
Boris Stojkovicz hätte seine Seele dem Teufel verkauft, wenn er dafür noch einige Tage länger leben würde und dadurch das Ende von Ben Jäger miterleben könnte. Warum musste ihn dieser verdammte Lungenkrebs auch innerlich auffressen, bevor er seinen Rachedurst an diesem verräterischen Bullen hatte stillen können. Vor vielen Jahren hatte dieser sich sein Vertrauen erschlichen, als er Undercover im Auftrag des LKAs tätig gewesen war. Ben Jäger trug an allem die Schuld: Dem Untergang seiner Familie, dem Tod seiner drei anderen Söhne, dem Tod seiner Frau, die sich aus Gram selbst das Leben genommen hatte und dass er die letzten Jahre im Rollstuhl verbringen musste. Nicht zuletzt, dass seine Krebserkrankung tödlich verlaufen würde. Der Gefängnisarzt hatte seine Beschwerden nicht ernst genommen und als er auf Drängen seines Anwalts zur weiteren Diagnose in die Uni-Klinik verlegt worden war, war es zu spät gewesen. Der Lungenkrebs hatte über seinen Körper Metastasen gestreut. Es gab keine Rettung mehr. Dabei hätte er nur noch ein Jahr bis zu seiner Entlassung absitzen müssen, dann wäre er auf Bewährung auf Grund seines Alters und Behinderung frei gekommen. Wie oft hatte er sich in der Gefängniszelle in seinen Gedanken ausgemalt, wie er Blutrache in diesem verräterischen jungen Polizisten nehmen würde. Die Zeit zerrann dem Todkranken zwischen den Fingern.
Rashid dachte schon, dass ein Vater eingeschlafen sei, als dieser unvermittelt die Augen aufschlug. So wie früher blitzten ihn diese an.
„Ich weiß nicht, ob ich das Ende von Ben Jäger noch erleben werde.“
„… dann lass mir doch einfach eine Bombe unter sein Auto legen und er ist tot!“ fiel ihm sein Sohn ins Wort. „Nein! … Nein! … Und nochmals nein! … Verstehst du nicht, das wäre viel zu billig! Der Kerl soll leiden. … Wissen, was es heißt einen Verlust zu verspüren, um jemand zu trauern … eine Bombe! ...“ hasserfüllt lachte der alte Mann auf, „das wäre zu billig … zu einfach! Der Verräter hat deinen ältesten Bruder Sergej erschossen, mich angeschossen …!“
Der Alte geiferte richtig vor sich hin. Mit seinem knochigen Finger deutete er auf das bereitgestellte Getränk auf dem Nachttisch. Rashid hielt ihm den Becher mit dem Strohhalm hin und der alte Mann trank gierig einige Schlucke.
„Hör zu, mein Sohn! Es gibt noch ein paar Dinge, die du wissen solltest und die ich für dich geregelt habe.“ Rashid stellte den Trinkbecher zurück und lauschte den Worten seines Vaters. Dabei umfasste er mit seinen beiden Händen dessen kalte Hand. „Rechtsanwalt Dr. Hinrichsen war heute Nachmittag ebenfalls da und hat noch ein paar Instruktionen für den Fall meines Ablebens bekommen.“ Immer wieder legte der Todkranke Pausen während des Sprechens ein, um neue Kraft zu sammeln. „Dein Onkel Zladan hat dich gegen meinen Willen in die Familiengeschäfte mit reingezogen. Nach dem letzten Wunsch deiner Mutter, war dir bestimmt, ein bürgerliches Leben zu führen und für den Fortbestand unserer Familie zu sorgen. Meinetwegen heirate diese Elena, wenn sie dich glücklich macht, hast du meinen Segen. Dr. Hinrichsen wird dafür sorgen, dass du ein finanzielles Auskommen haben wirst. Dein Onkel wird dir deinen Erbteil aus den Geschäften überweisen! Jeden Cent einschließlich Zinsen!“ Der Alte lachte meckernd vor sich hin, als hätte er den Clou seines Lebens gemacht.
„Aber Papa! Du kennst doch Onkel Zladan! Er hat mich mit ein paar mickrigen Euros fürs Studium abgespeist. Wenn ich mehr Geld möchte, soll ich für ihn arbeiten!“ warf der junge Mann ein.
„Pffff, vergiss das! Dr. Hinrichsen hat Mittel und Wege und auch mächtige Verbündete, die deinem Onkel klar machen, wer das Sagen hat!“ Wieder fing der Alte an bösartig vor sich hinzulachen. Er glich in diesem Moment einem Dämon, der Ausgeburt der Hölle. „Schade …. Einfach … nur schade! Was ich wirklich bedauere, ist, dass ich das Gesicht von diesem Jäger nicht erleben kann, wenn er erfährt, wer hinter seinem Untergang steckt“, krächzte der Alte. Er verfiel für ein paar Minuten in ein Schweigen. Rashid wagte es nicht das Wort zu ergreifen. „Denke immer daran mein Sohn, auch wenn ich sterbe, du bist nicht allein bei deinem Rachefeldzug! … Du hast mächtige Verbündete! Vertraue diesen Leuten! Außerdem wird dieser Remzi auf dich aufpassen! …“
Rashid wollte seinem Vater lieber nicht sagen, wie er die Fürsorge dieses Söldners empfand. In den letzten Tagen und Wochen ihrer Zusammenarbeit und des Zusammenlebens hatte er diesen rücksichtslosen Menschen näher kennengelernt. Der junge Albaner sehnte schon den Tag herbei, wenn er aus der Obhut dieses gewalttätigen Kerls, den er nicht ausstehen konnte, entfliehen konnte. Er hatte keine Ahnung, wie sein Vater ausgerechnet auf diesen Mann für die Ausführung seines Racheplans gekommen war. Woher kannte er diesen Mann? Der junge Albaner wusste, dass der Grauhaarige im Balkankrieg gekämpft hatte. Wahrscheinlich stammte daher seine Lieblingsbeschäftigung, andere Leute, einschließlich ihm, mit seiner sadistischen und menschenverachtenden Art zu quälen.
„Papa, bitte! Warum ausgerechnet dieser Kerl? Sascha und ich kriegen das alleine hin und …!“
„Du und Sascha?“ unterbrach ihn der Alte mit einem geringschätzigen Lachen. „Nein, nein mein Sohn! Wovon träumst du denn! Weder Sascha noch du haben den nötigen Grips, die solch ein ausgeklügelter Racheplan mit sich bringt! “ Wieder krümmte sich der Kranke in einem Hustenanfall zusammen. Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen, als wer wieder Luft bekam und seinem Sohn eine letzte Botschaft mitgab. „Kümmere dich nicht um Details mein Sohn! Es ist alles geregelt! Mach, was Remzi dir sagt und am Ende wirst du, wenn Ben Jäger tot ist, belohnt werden!“
Rashid quälten noch viele Fragen im Zusammenhang mit diesem Rachefeldzug. Bis zum Schluss hatte sein Vater Geheimnisse vor ihm. Als er das letzte Mal nachgebohrt hatte und das wieso und warum hinterfragt hatte, war sein alter Herr regelrecht ausgeflippt. Die Worte der Krankenschwester kamen ihm wieder in den Sinn. Nein, einen Streit als letztes Gespräch, nein, das wollte er nicht riskieren. Rashid wollte in Frieden mit seinem Vater hier und heute auseinandergehen. Die beiden Männer wechselten noch ein paar Worte, die die Zukunft des jungen Mannes betrafen, bevor der Todkranke erschöpft einschlief.
Rashid verharrte noch einige Minuten regungslos in seinem Sessel. Irgendwie war ihm klar, dass er Abschied nehmen musste von seinem Vater. Er kniff die Lippen zusammen und aus den Augenwinkel rannen Tränen über seine Wangen. Viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf, über die Vergangenheit und seine Zukunft. Das Piepsen seines Handys, auf dem eine neue Nachricht angekommen war, riss ihn aus seiner Traumwelt. Remzi wartete auf ihn und drängte zum Aufbruch. Der junge Albaner erhob sich aus dem Sessel und hauchte seinem Vater zum Abschied einen Kuss auf die Stirn.