In seinem Gehirn fing es fieberhaft an zu arbeiten. Verdammt … verdammt … dann befand sich Ben in größter Gefahr. Doch noch eine Frage beschäftigte Semir, wer war diese geheimnisvolle Frau, die es geschafft hatte einen Keil, zwischen Anna und Ben zu treiben?
„Kennst du den Namen der Frau? … Was genau hat Sie dir erzählt? Bitte Anna, erzähl mir jedes Detail, welches dir noch einfällt! Alles ist wichtig!“ forderte er sie auf vom Besuch von Bens Ex-Freundin zu berichten.
Die dunkelhaarige junge Frau hatte ihr Beine angezogen und auf dem Sofa abgelegt. Andrea drückte ihr eine Tasse Tee in die Hand, an der sie sich krampfhaft festhielt. Semir nahm die Teetasse ebenfalls in Empfang. Er war aufgestanden und wanderte ruhelos im Wohnzimmer umher, während seine Frau anstelle von ihm neben Anna Platz genommen hatte und sie tröstend in den Arm nahm. Zuerst noch sehr stockend, doch dann immer flüssiger berichtete die junge Frau über das, was sich vor einigen Tagen in ihrer Wohnung zugetragen hatte.
„Die Frau war ungefähr so alt wie Ben und hat sich als Jessica Habermann vorgestellt. Sie sei mit Ben zur Schule gegangen!“ Sie erzählte alle Details, die ihr einfielen … über das Kettchen, die Fotos, die Geschichte mit dem Kind, das angebliche Verhältnis zu Bens Familie, den Rauswurf aus der Wohnung einfach alles. Zwischendrin nippte sie an ihrem Tee.
Semir stand etwas ratlos da und zuckte hilflos mit den Schultern.
„Sorry, ich kenne die Frau nicht. … Nie gesehen! …. Den Namen habe ich noch nie gehört. Aber es sollte kein Problem sein, über sie etwas raus zubekommen. Ich denke, auch da kann uns Susanne weiterhelfen.“
„Ich glaube, ich weiß, wer da bei dir war!“ meldete sich zu Semirs Überraschung Andrea zu Wort. Anna wendete ihr Gesicht Andrea zu und blickte sie erwartungsvoll an. „Es war an irgendeinem Abend … Semir und ich hatte einen tollen Wellness-Nachmittag verbracht und Ben hatte den Babysitter-Job bei Aida und Lilly übernommen. Selbst nach unserer Rückkehr hat er so liebevoll mit den beiden Mädchen gespielt. Nachdem wir zusammen die Kinder ins Bett gebracht hatten, sprach ich ihn darauf an, ob er sich denn auch mal Kinder wünsche“, sie dachte sinnend nach und versuchte sich an die Einzelheiten zu erinnern. Mit ihrer ruhigen Stimme fuhr sie fort, „Er erzählte mir, dass er schon fast einmal vor ein paar Jahren Papa geworden wäre. Er nannte die Frau Jessie. Sie war mit ihm zusammen zur Schule gegangen. Damals waren sie miteinander befreundet gewesen, ein Paar gewesen. Nach der Schule hatten sie sich aus den Augen verloren. Bei einem LKA Einsatz im Rotlicht Milieu trafen sie sich nach Jahren wieder. Diese Jessie hatte Ben um Hilfe gebeten, um auszusteigen. Als Gegenleistung sagte sie gegen einen der Zuhälter aus.“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr Mann hatte sich ihr gegenüber hingesetzt und hörte fasziniert zu. Die Verblüffung, dass seine Frau etwas über seinen Partner wusste, was er selbst nicht kannte, stand ihm im Gesicht geschrieben. Auch Anna saß schweigend dabei und hielt ihre leere Teetasse krampfhaft in den Händen, als könne sie ihr einen Halt geben. „Ich weiß nicht, ob die beiden zu diesem Zeitpunkt wirklich was miteinander hatten. Auf jeden Fall war diese Jessie schwanger und Ben half ihr von ihrer Alkoholsucht loszukommen und wieder auf die Füße zu kommen, kümmerte sich um Mutter und Kind. Lange Zeit spielte er wohl auch so ein bisschen Ersatz-Papa für das Kind und diese Jessie schien sich schon berechtigte Hoffnungen gemacht zu haben, dass Ben sie vielleicht heiraten würde. Scheinbar ging das auch relativ lange gut, bis der kleine Junge so ungefähr eineinhalb Jahre alt war. Diese Jessie fing wieder an zu trinken. Mehr als einmal hatte Ben den Jungen völlig verwahrlost und alleine gelassen in der Wohnung vorgefunden. Das eingeschaltete Jugendamt machte Hausbesuche, stellte der Mutter eine Familienhelferin zur Seite, nur es änderte sich nichts. Daraufhin wurde der kleine Junge für einige Wochen in die Obhut einer Pflegefamilie gegeben. Die Mutter begann eine Therapie, legte Beschwerde ein und bekam ihr Kind wieder zurück. Das Jugendamt vertrat zu diesem Zeitpunkt die Meinung, ein Kind gehöre zu seiner Mutter. Aber kaum war der Kleine wieder bei dieser Jessica, begann diese wieder damit Alkohol zu trinken und zusätzlich noch Drogen zu nehmen. Ben hatte damals das Gefühl, das Jugendamt schaute einfach weg.“ Für einige Sekunden verstummte Andrea. Zu sehr hatte sie das Schicksal des hilflosen Kindes berührt. Semir stand, wie eine Statue an die Terrassentür gelehnt, völlig geschockt da. Das Schicksal von Kindern, denen ein Leid zugefügt worden war, berührte ihn ganz besonders. Es machte ihn wütend. „Eines Abends, die Nachbarn hatten Ben verständigt, weil der Junge so gottjämmerlich den ganzen Tag über geweint hatte, fand er den Jungen mit einem Fieberkrampf und einer schweren Lungenentzündung allein gelassen in seinem Kinderbettchen vor. Er hat dem kleinen Kind an jenem Abend das Leben gerettet, wie die Ärzte im Krankenhaus bestätigten. Anschließend hatte Ben mit Hilfe eines Anwalts dafür gesorgt, dass dieser Jessie der Junge weggenommen wurde, das Sorgerecht entzogen wurde. Er hätte ihn gerne selbst adoptiert, aber nachdem er nachweislich nicht der leibliche Vater war, wurde der kleine Junge vom Jugendamt zu Pflegeeltern gegeben. Die hatten anfangs noch in Köln gelebt, doch diese Jessie schien die Pflegefamilie regelrecht terrorisiert zu haben, gestalked zu haben, wo sie nur konnte. Selbst vor Gewalt gegenüber der Pflegemutter schreckte sie nicht zurück. Die Familie, die den Jungen in Obhut hatte, wollte verhindern, dass das Kind von einer Pflegefamilie zur andern weitergereicht wurde und so sind sie schließlich aus Köln weggezogen. Solange der Junge in Köln gelebt hat, hatte Ben auch noch Kontakt zu ihm gehabt. Um ihn zu schützen, hat er den Kontakt abgebrochen. Ich glaube, wenn es diese Jessie war, die Anna besucht hat, hatte die auch ein Motiv Ben eins auszuwischen. Denn der von Ben beauftragte Anwalt, der die Rechte des Kindes vertrat, machte richtig Druck. Auf Veranlassung des Jugendamtes bekam diese Jessica eine richterliche Anordnung, die ihr das Besuchs- und Umgangsrecht mit ihrem Sohn entzog.“
Als sie verstummte, herrschte Schweigen im Raum. Semir schaute mit einem leeren Blick zum Fenster raus in den Garten und musste das gehörte erst mal verarbeiten. Anna saß mit zitterndem Körper neben Andrea auf dem Sofa. Diese konnte spüren, wie innerlich aufgewühlt die junge Frau war. Semir drehte sich zu den beiden Frauen um und kniete sich vor Anna hin und umschlang deren Hände.
„Anna!“ fast schon beschwörend sprach er sie an, „wann hast du das letzte Mal etwas von Ben gehört? Es ist wichtig! …Mit ihm gesprochen!“
Mit bebender Stimme wisperte sie stockend „Vor drei Tagen … nachdem … ich ihn aus meiner Wohnung rausgeschmissen hatte … versuchte … er mich anzurufen … Ich …ich bin nicht rangegangen … und … und er … hat … mir daraufhin eine SMS geschickt!“ Sie schluchzte lauthals auf … mit zitternden Fingern suchte sie in ihrer Hosentasche nach ihrem Handy, zog es heraus und öffnete die Nachricht, bevor sie es an Semir weiterreichte. Dieser las die letzten Worte, die Ben an seine Freundin geschrieben hatte.
'Anna bitte, ich flehe Dich an … lass es nicht so zwischen uns enden! Vertraue mir, niemals könnte ich Dir so etwas antun. Verstehst DU? NIEMALS! Raube mir nicht meinen letzten Hoffnungsschimmer, Dir die Wahrheit zu beweisen. Du trägst meine Liebe … mein Herz in deinen Händen … Wenn Du es fallen lässt, zerbricht es …zerbreche ich daran in tausend Scherben … Ohne Dich kann ich nicht sein und will ich nicht sein, du bist die Liebe meines Lebens … Glaube mir, man kann mir alles nehmen, das ist mir egal. Aber Deine Liebe bedeutet mir alles, ohne diese kann ich nicht existieren … Denk an unsere Pläne und Träume, ich werde dafür kämpfen … bitte Du auch … in Liebe Ben'
Semir legte das Handy zurück auf das Sofa und murmelte fassungslos vor sich hin: „Oh mein Gott … oh mein Gott!“ Der Türke umschlang Annas eiskalte Hände. „Scht … beruhige dich doch! … Wir finden ihn Anna, versprochen! Verstehst DU? Ich werde Ben finden! Bei allem was mir heilig ist. … Versprochen!“
Bens Freundin fühlte sich schuldig und hundeelend. Leise, kaum hörbar flüsterte die junge Frau vor sich hin „Was habe ich nur getan? … Oh mein Gott! … oh mein Gott! … Semir! … Was habe ich nur Ben angetan? …“
Ständig wiederholte sie monoton diese Worte, schlug sich die Hände vor das Gesicht und fing erneut hemmungslos an zu weinen ... Semir war in diesem Moment vollkommen hilflos, was sollte er nur sagen, um Anna Trost zu spenden. Als er seine Hände ihre Schultern legen wollte, schüttelte Andrea den Kopf und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er die beiden Frauen alleine im Wohnzimmer lassen sollte.
Für ihn war es die passende Gelegenheit auf die Terrasse zu gehen, um mit Susanne zu telefonieren.