Ben erwachte von seinem eigenen Stöhnen. Tausend kleine Nadelstiche malträtierten seinen geschundenen Körper. Benommen registrierte, dass er nicht mehr an diesen Seilen hing, sondern in Bauchlage auf einem Holzboden lag. Der vertraute modrige Geruch verriet ihm, dass man ihn zurück in sein kleines Gefängnis gebracht hatte. Vorsichtig drehte er sich auf den Rücken und tastete mit seinen Fingern behutsam über seinen Körper. Der Begriff „Gespickter Hasenrücken“ bekam für ihn eine neue Bedeutung. Denn genauso fühlte er sich, als seine Fingerkuppen über die Schnittverletzungen strichen. Das verkrustete Blut hatte sich mit den Resten seines zerschlissenen T-Shirts und seiner Hose verklebt. An seinen Oberarmen bedeckte Wundschorf die Schnitte. Mehr und mehr ebbte der Schmerz auf ein erträgliches Maß ab. Nur noch die tieferen Verletzungen brannten.
Eine Schmeißfliege hatte den Weg in sein Verlies gefunden und umschwirrte ihn. Ihr ständiges Surren war das einzige Geräusch in der Dunkelkammer. Sie krabbelte über sein Gesicht und mehrmals versuchte der Polizist sie mit einem Wischen seiner Hand zu verjagen. Irgendwie schaffte er es unter großen Anstrengungen sich zum Sitzen aufzurichten. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Holzwand und schloss die Augen. Gabrielas Worte, er würde sich den Tod wünschen, herbeiflehen, bekamen langsam einen anderen Sinn. Tausend Dinge geisterten durch seinen Kopf.
Erinnerungen
Fragen
Ängste
Die Rachsucht von Gabriela Kilic kannte keine Grenzen! Und alles nur, weil sein Partner und er im vergangenen Jahr zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Anfangs hatte sich der Kommissar noch schwere Vorwürfe gemacht, dass Andrea und er Luca, den Bruder der Kroatin, bei ihrer gemeinsamen Flucht mit Aida blutend in dem Schuppen zurückgelassen hatten. Keiner konnte zu dem Zeitpunkt ahnen, dass es dem widerlichen Typen, laut der Aussage seiner Schwester, die Schlagader am Hals zerfetzt hatte. Als er im Nachhinein bei Recherchen raus gefunden hatte, dass es sich bei dem Mann um einen Schänder der übelsten Art und kaltblütigen Mörder gehandelt hatte, war es mit seinen Gewissensbissen vorbei gewesen.
Ben tauchte weiter ab in die Bilder der Vergangenheit. Gleich einem Film spielten sich die Szenen in dem Schuppen vor seinem inneren Auge ab. Szenen, von denen er dachte, er hätte sie schon längst aus seinem Gedächtnis vertrieben. Gabriela hatte ihren Bruder abgöttisch geliebt und alles verziehen, was er angestellt hatte. Während der Gerichtsverhandlung, bei der er als Zeuge aussagen musste, hatte sie ihm mehr als einmal eine tödliche Vergeltung geschworen.
Eine unbändige Angst und Panik stiegen in ihm hoch, wenn er daran dachte, was man ihm noch antun würde. Gleichzeitig war da noch dieser Urinstinkt in ihm, der ihm eintrichterte: Du musst überleben, weiter leben … weiterkämpfen. Fliehen!
Wie so oft in den letzten Tagen, richtete er sich auf und humpelte zur Stahltür. Mehrfach hatte er schon versucht eine Schwachstelle in der Zugangstür zu finden. Ein Schlupfloch in die Freiheit.
Enttäuscht rutschte er an der Stahltür runter auf den Boden. Durst quälte ihn. Vorsichtig begann er in dem finsteren Loch über den Boden zu robben und suchte diesen mit seinen Händen nach einer Wasserflasche ab.
Nichts … da war einfach nichts.
Verzweiflung machte sich in ihm breit. Ben schrie lauthals los. Schrie all seinen Frust, seine Wut heraus. Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlichster, als wieder in diesen wohltuenden Abgrund ohne Schmerz und Leid abzutauchen. Die wildesten Hirngespinste malte sich ein gequälter Geist aus und alle endeten mit einem Ergebnis, was für eine Erlösung es für ihn wäre, wenn es jetzt und hier zu Ende wäre.
*****
Auf der PAST
Semir erreichte müde und verschwitzt am späten Abend des gleichen Tages die Dienststelle. Den kompletten Arbeitstag hatten er und seine Kollegen in der prallen Sonne Dienst geschoben. Dank der Ringfahndung, die auf Grund der Anschläge am frühen Morgen in der Kölner Innenstadt vom Innenministerium angeordnet worden war, kontrollierten er und Jenny irgendwelche verdächtigen Fahrzeuge samt Insassen auf Autobahnrastplätzen. Laut Zeugenaussagen, hätten es zig verschiedene KFZ-Kennzeichen gewesen sein können. Nur in einem waren sich alle Zeugen einig. Das Täterfahrzeug, aus welchem auf die Richterin geschossen worden war, war ein roter VW Passat, älteres Modell, mit einem Kölner Kennzeichen und einer fünf am Ende gewesen. Alle in Frage kommenden Fahrzeuge wurden kontrolliert. Und der Erfolg war gleich Null. Keine Spur von den Verdächtigen! Nur ein Einbrecher-Duo konnte zufällig verhaftet werden.
Für den Autobahnpolizisten war es ein verlorener Tag bei seiner Suche nach Ben.
Erschöpft ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. Aus dem Getränkeautomat hatte er sich vorher ein gekühltes Mineralwasser geholt, welches er schluckweise trank, während er über die Ereignisse des Vormittags nachdachte. Es hatte nicht nur Anschläge in Köln gegeben. Zusätzlich zu den Anschlägen in der Nacht zuvor waren ein Richter des Landgericht Düsseldorfs und drei Beamte des LKAs ebenfalls Opfer von Mordanschlägen geworden. Für den Türken war klar. Das waren keine Zufälle, keine Terroranschläge, wie es die Presse behauptete, sondern es war ein groß angelegter Rachefeldzug. Im Falle der Opfer im Großraum Köln war der Zusammenhang zu Gabriela Kilic offensichtlich. Nur der dämliche Oberstaatsanwalt schien sich nicht für diese These zu interessieren. Am Morgen war es deshalb zu einem erbitterten Streit zwischen Semir und seiner Chefin gekommen, weil der Türke lieber nach Ben und der Kilic gesucht hätte. Stattdessen musste er die Fahndung nach den Tätern der Anschläge mit unterstützen. Erst als ihm Frau Krüger mit disziplinarischen Maßnahmen bis hin zu Entzug des Falles Ben Jäger gedroht hatte, lenkte der Türke widerwillig ein.
Mit einem kritischen Blick begutachtete Semir die Aktenberge, die ihm Susanne auf die Schreibtischplatte gelegt hatte, bevor sie Feierabend gemacht hatte. Na die Lektüre für den Abend und die Nacht war gesichert. Er beschloss erst einmal duschen zu gehen und die verschwitzte Kleidung zu wechseln. Anschließend wollte er zusammen mit den Kollegen vom Nachtdienst sich einen kleinen Imbiss bei einem Pizza-Service bestellen. Es machte seiner Ansicht nach keinen Sinn nach Hause zu fahren. Wozu auch, es war keiner da, der auf ihn wartete und wenn er müde war, konnte er sich im Bereitschaftsraum auf eines der Feldbetten zum Schlafen hinlegen.