Zurück auf dem Krankenhausflur sah er eine dunkelhaarige Person, die wie ein Krankenpfleger der Uni-Klinik gekleidet war, die einen Rollstuhl vor sich herschob und Julias Zimmer ansteuerte. Beim Klopfen an der Tür dachte Semir bei sich, merkwürdig, Bens Schwester hatte mit keinem Ton erwähnt, dass eine Untersuchung anstand. Er wusste nicht warum, sein Bauchgefühl meldete sich und auf einmal schrillten beim die Alarmsirenen. Der Türke beschleunigte seine Schritte. Die letzten Meter legte er rennend zurück, was ihm das Kopfschütteln einer Krankenschwester einbrachte, die er fast über den Haufen gerannt hatte. Als der Türke vor Julias Zimmertür angekommen war, vernahm er einen Hilfeschrei der jungen Frau. Semir drückte die Türklinke und stieß mit einem Ruck die Tür auf, so dass diese mit einem lauten Knall gegen die Wand schlug. Mit einem Blick hatte er die Situation erfasst und erlebt fast ein Déjà-vu.
Julia hatte sich an den äußersten Bettrand in Richtung ihres Kindes hingedrängt. Dort lag sie zusammengerollt, die Hände in einer Abwehrhaltung vor dem Körper, als könne sie damit die Messerklinge aufhalten, die auf sie zuraste. Ihre Hilfeschreie erstarben auf ihren Lippen. Der Attentäter zuckte bei der unerwarteten Unterbrechung zusammen und hielt einen Sekundenbruchteil inne und versuchte sich zu orientieren, wer ihn da störte!
Bei Semir war alles, was er tat, eine instinktive Handlung. Bevor der Dunkelhaarige wusste wie ihm geschah, hatte ihn Semir mit voller Wucht von hinten angesprungen und aus dem Gleichgewicht gebracht. Der Angegriffene taumelte und wollte den Angreifer hinter sich, so schnell wie möglich loswerden und stürzte mit ihm zu Boden. Dabei verlor er seine Brille, als er mit dem Kopf gegen den Rollstuhl knallte. Im darauffolgenden Kampfgetümmel zwischen ihm und Semir trat der Türke unabsichtlich auf die Brille. Der falsche Krankenpfleger wollte sich benommen vom Boden aufrappeln und zum Gegenangriff mit dem Messer übergehen. Dabei gelangte er in die Reichweite von Semirs Fäusten. Der Türke fackelte nicht lange und verpasste dem Verdächtigen ein paar Faustschläge ins Gesicht und in die Magengegend. Der letzte Schlag ließ den Südländer zusammenklappen. Pfeifend entwich die Luft seinen Lungen. Kompromisslos verpasste ihn der Kommissar noch einen finalen Schlag auf die Kinnspitze, der ihn ins Land der Träume beförderte.
Julia saß kreidebleich und wie versteinert im Bett. Die Szene hatte sich binnen einer Minute vor ihren Blicken abgespielt.
„Bist du in Ordnung Julia?“, vergewisserte sich Semir, während er den Bewusstlosen untersuchte. Der Autobahnpolizist entdeckte den Sender im Ohr des Krankenpflegers, der vorher geschickt durch die halblangen Haare verborgen gewesen war. Seine Taschen waren leer. Nur an seinem Oberteil war ein Ausweis befestigt, der ihn als Mitarbeiter der Uni-Klinik auswies, auf dem Michael stand.
Angelockt vom Krach kam der Krankenpfleger Sebastian, dicht gefolgt von der Hebamme Maria ins Zimmer gestürmt. Während sich die Hebamme um Julia Jäger und ihr Baby kümmerte, fesselte Basti mit Hilfe von Leukoplast dem Verdächtigen die Hände auf den Rücken. Er bestätigte dem Autobahnpolizisten, dass er den Kerl noch nie hier am Klinikum gesehen hatte und dieser bestimmt nicht zum Pflegepersonal der Privatstation gehöre. Der alarmierte Sicherheitsdienst des Krankenhauses nahm den Verdächtigen bis zum Eintreffen der alarmierten Polizei in Gewahrsam.
Semir hatte sowohl Frau Krüger, als auch Konrad Jäger von den Ereignissen in der Uni-Klinik telefonisch unterrichtet. Unruhig wie ein angeketteter Wachhund lief der Türke den langen Krankenhausgang auf und ab. Er erwartete die Beiden vor Julia Jägers Zimmer, die sich zwischenzeitlich unter der Obhut der Hebamme Maria beruhigt hatte. Konrad Jäger traf noch vor Frau Krüger ein und hatte es in der kurzen Zeit geschafft, über einen privaten Sicherheitsdienst zwei Bodyguards zum Schutz seiner Tochter und seines Enkels zu engagieren. Die Chefin hatte neben Jenny auch Hartmut mit seiner kompletten Mannschaft im Schlepptau, die sich sofort an die Arbeit machten. Julia wurde mit ihrem Baby kurzfristig in ein anderes Zimmer verlegt, während die Spurensicherung ihre Arbeit aufnahm. Die Kollegen von der Streife den Verdächtigen führten ab.
Nachdem sich Konrad Jäger davon überzeugt hatte, dass es seiner Tochter und seinem Enkel gut ging, näherte er sich dem Kommissar. Tiefe Sorgenfalten hatten sich in die Stirn des alten Herrn eingegraben.
„Herr Gerkan, haben sie etwas von Ben gehört? …. Eine Spur? … Einen Hinweis, wo er abgeblieben ist? ….“
Semir schüttelte den Kopf. Er räusperte sich, ein dicker Kloß schien in seinem Hals zu stecken.
„Es tut mir leid, Herr Jäger! Wir wissen zurzeit nur eines sicher, Ben ist und war unschuldig.“
Mit knappen Sätzen informierte er Konrad Jäger über den aktuellen Stand der Ermittlungen. Als sich der Autobahnpolizist verabschieden wollte, legte der Grauhaarige ihm die Hand auf die Schulter. Man konnte sehen, wie er innerlich mit sich kämpfte, bevor er die nächste Frage stellte. Die Zeit drängte, der Türke wollte unbedingt, den Verdächtigen auf der PAST selbst verhören. Von dem Südländer erhoffte er sich einen entscheidenden Hinweis auf den Verbleib von Ben.
„Herr Gerkan, bitte!“, eisern hielt er den Freund seines Sohnes an dessen Schulter fest. Der Ausdruck seiner Augen spiegelte die Sorge und Angst um seinen Sohn wieder. „Glauben sie, dass Ben noch lebt?“
Das Bimmeln des Handys ersparte dem Autobahnpolizisten die Antwort. Ein Blick auf das Display wies Kim Krüger als Anruferin aus. „Moment bitte, Herr Jäger!“ Angespannt lauschte er den Worten seiner Chefin. Am Ende des Gesprächs entfuhr ihm eine Serie türkischer Flüche, als er mit seiner Faust gegen die Wand im Flur hämmerte. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, erklärte er Konrad Jäger, was geschehen war.
„Der Verdächtige wurde zum Verhör auf die PAST gebracht. Direkt vor dem Eingang der Dienststelle wurde er von einem Scharfschützen durch einen Kopfschuss getötet!“
Wieder löste sich eine hoffnungsvolle Spur auf der Suche nach Ben im Nichts auf.