Fühlinger See - 19:00 Uhr
Sein Kopf schmerzte nicht, eher der Nacken. Das beruhigte Ben insofern, dass er keine Gehirnerschütterung hatte und nicht durch einen Schlag auf den Kopf ohnmächtig war. Aber der Hals tat ihm weh, weswegen er den Kopf immer mal hin und her drehte, als er sich vom Boden wieder aufgerafft hatte. Jemand hatte die Hütte ganz schön auf links gedreht, nachdem er ihn ausgeschaltet hatte. "Was ein Scheisstag...", murmelte er missmutig und ging einige wacklige Schritte durch das Chaos. Scheinbar hatte der Typ nicht das gefunden, was er wollte, denn in wirklich allen Zimmern herrschte Chaos. Aber zuerst wollte er seinen Partner beruhigen, auch wenn sie vorhin im Streit auseinander gegangen waren. Er sah die vielen Anrufe in Abwesenheit und wählte mit seinem Smartphone Semirs Nummer.
Es dauerte nur kurz, bis der kleine Polizist hektisch abnahm. "Ah, du lebst also noch.", war eine Mischung aus Vorwurf und Erleichterung, die Ben ins Ohr drang. "Gerade so..." "Was war denn los? Wo bist du? Warum gehst du nicht an dein Handy? Hast du geschmollt?", überfuhr Semir ihn mit Fragen und der großgewachsene Kommissar verdrehte die Augen. "Ja, weil ich ein kleines Kind bin." Er seufzte und hätte sich für den Ton schon wieder selbst ohrfeigen können. "Nein, ich hab nicht geschmollt. Ich hab einen Tipp bekommen, wo Christian sein könnte... und scheinbar war der Tipp nicht verkehrt."
Während er redete, tapste er über das Chaos durch die Räume und versuchte, selbst noch etwas zu finden, was dem Typ vielleicht entgangen war. "Hast du ihn gefunden?" "Das leider nicht. Aber scheinbar ist hier etwas, was begehrt ist." Er konnte Semir am Telefon seufzen hören. "Du sprichst in Rätseln." "Ich bin in einer Hütte, die Christians Vater gehört. Kurz nachdem ich hier an kam, wurde ich niedergeschlagen. Und jetzt ist die ganze Bude auf links gedreht." "Wie bitte?", fragte Bens Partner ungläubig. "Du hast schon richtig gehört. Mir muss jemand gefolgt sein. Scheinbar sind wir nicht die einzigen, die Christian suchen." "Das würde zumindest bedeuten, dass die Angreifer heute Morgen keinen dritten oder vierten Mann hatten, die Christian aufgegriffen haben." "Ja... falls es die Asiaten waren."
Semir dachte nach. "Wer hat sonst noch Interesse an deinem Cousin?" Er konnte hören, dass sein Partner offenbar ebenfalls noch auf die Suche nach Hinweisen ging. "Du, keine Ahnung. Ich blick da sowieso noch nicht ganz durch.", meinte Ben missmutig, aber immerhin wieder in einer Art der Zusammenarbeit. Keiner der beiden brauchte sich zu entschuldigen nach dem Streit am Nachmittag, Ben wusste dass er sich blöd benommen hatte, und die Tatsache dass er jetzt wieder normal auf Semir reagierte, nahm dieser als stumme Entschuldigung an. Sie funktionierten, wie ein altes Ehepaar.
"Ich informier die Spurensicherung.", meinte Semir dann, doch Ben schüttelte den Kopf. "Ich glaub nicht, dass das was bringt. So professionell der mich ausgeschaltet hat, wird der hier keine Spuren hinterlassen haben... wart mal grad." Bens Hände hatten zwischen den Kissen der kleinen Couch etwas gefunden. "Ich glaube, ich hab hier etwas, was der Typ übersehen hat." Er zog das Blatt mit der Klarsichtfolie hervor und warf einen Blick darauf. "Sieht aus wie ein Gebäudeplan." "Von welchem Gebäude?", kam sofort die Frage durchs Telefon, doch Ben konnte darauf keine Antwort geben. "Keine Ahnung. Es steht nix dabei. Aber das bekommt Hartmut sicher raus..." Der junge Polizist konnte sich nicht erklären, warum Christian hier einen Gebäudeplan verstecken sollte.
"Soll ich vorbeikommen?", fragte Bens Partner dann, und seine Stimme klang fürsorglich. "Nein, kein Problem. Ich fahr direkt nach Hause. Ich glaub nicht, dass wir heute noch viel rausbekommen. Morgen früh fahren wir direkt zu Hartmut, ok?" "Alles klar. Dann erhol dich mal von dem Schrecken.", sagte Semir und die beiden beendeten das Gespräch. Ben sah sich in der Hütte noch etwas um, dann fotografierte er, wie Lucas vorher, den Plan und sendete ihn direkt an Hartmut, mit der Bitte heraus zu bekommen, von welchem Gebäude dieser Plan sei. Danach fuhr er, mit 1000ten Gedanken nach Hause.
Jennys Wohnung - 22:30 Uhr
Jenny schreckte hoch... für einen Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Umgebung, der Ton des Fernsehers drang zu ihr und sie spürte, dass sie auf ihrer Couch eingeschlafen war. Aber warum hatte sie sich so erschreckt? Hatte sie geträumt? Einer der zahllosen ruhelosen Träume, die sie in den letzten Wochen immer wieder heimsuchte? War sie überhaupt wach? Sie hatte sich einen Trick angewöhnt und zwickte sich in den Oberarm... ja, sie war wach. So oft, wo sie in letzter Zeit dachte, sie sei aufgewacht... dabei war sie gerade nur von einer in die andere Traumebene gewechselt. Das gemeinste, was einem das Hirn vorgaukeln konnte. 'Vielleicht sollte ich einfach ins Bett gehen...' dachte sie sich und schauderte.
Die junge Polizistin hatte vor nicht vielen Dingen Angst, als sie zur Polizei gekommen war. Angst war ein schlechter Begleiter im Dienst, aber auch im Privatleben war sie unbeschwert. Die letzten 12 Monate hatten das geändert. Sie hatte Liebe erfahren, Unsicherheit, Verlust. Kevin, ihr Kind, und nochmal Kevin. Sie hatte erfahren, was nackte, pure Angst bedeutete. Als Mark Schneider über sie herfiel, als sie von Carsten entführt wurde und als sie in Kevins eiskalte Augen blickte, der ohne Gedächtnis eine Waffe auf sie richtete. Das Schlimmste aber war, dass sie Kevin vor einigen Wochen verlor. Seitdem hatte sie Angst... Angst vor Alpträumen, Angst vor der Dunkelheit. Sie hielt Versprechen und ließ es nicht zu, dass ihre Trauer und ihre Gedanken an Kevin in Hass umschlugen. Im Hellen verwandelte sie die Gedanken in Energie in ihren Job, was ihr immer besser gelang, auch wenn ihre Unbeschwertheit fehlte. Aber im Dunkeln wandelten sich die Gedanken in Angst...
Sie gingen müde ins Badezimmer, zog sich aus und stellte die Dusche an. Nach einer Minute war das Wasser warm, das aus dem Duschkopf strömte und Jenny stellte sich unter den Wasserfall. Tropfen perlten von ihrer Haut, sie schloß die Augen und genoß für einen Moment diese Wohltat, als sie plötzlich in mitten des rauschenden Wassers ein Geräusch vernahm. Es klang, wie ein Klopfen und sofort riss Jenny die Augen. Sie hörte angestrengt, da war es wieder, und sofort stellte die junge Polizistin das Wasser ab. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie im stillen Badezimmer stand und lauschte, ob es nochmal klopfte, nur das Tropfen des Wasserhahns und das Gluckern des Abflusses war zu hören. Und ihr Herzschlag zu spüren, sie schien dabei den Atem anzuhalten. Doch nichts tat sich mehr, bis sie zum Wasserhahn griff. Noch bevor sie ihn erneut aufdrehte, klopfte es erneut. Es kam von weit weg, aber nicht aus Richtung der Wohnungstür. Es klang, als klopfe jemand gegen Blech, eine Autotür oder die Motorhaube... nicht gegen die Wohnungstür aus Holz oder ein Fensterglas. Es klopfte immer zweimal... im gleichen Abstand, wie die Schüsse auf Kevin fielen. Jenny nahm ein großes Handtuch und wickelte sich darin ein, bevor sie langsam mit nassen Füßen die Badezimmertür öffnete. Die Wohnung lag dunkel und still vor ihr, sofort knipste sie das Licht überall an um alle bösen Geister zu vertreiben. "Ganz ruhig, Jenny. Du bildest dir das schon wieder ein. Du bist einfach nur müde.", sagte sie zu sich mit zitternder Stimme. Sie ging zurück ins Badezimmer und sah in den Spiegel. So müde sah sie eigentlich nicht aus... ihre Augen waren groß vor Schreck. Aber ihr Atem beruhigte sich langsam wieder. Sie hatte das Handtuck fest um sich gebunden, nahm ein zweites Handtuch um die Haare abzutrocknen. Dabei lehnte sie sich ein wenig nach vorne und begann die langen Haare trocken zu rubbeln.
Als sie sich wieder aufrichtete und in den Spiegel sah, erstarrte sie. Hinter ihr stand Kevin, der sie mit seinen blauen Augen, in seinem weißen Shirt und seinem melanchonischen, manchmal traurig wirkenden Blick ansah. "Hilf mir.", konnte sie seine monotone Stimme hören. Blitzschnell drehte sie sich vom Spiegel weg und starrte auf die offene Tür, wo ihr verstorbener Freund gerade noch im Spiegel zu sehen war, doch da war niemand. Nur einmal konnte sie noch das Klopfen hören, als Jenny Tränen in die Augen stiegen und sie sich am Waschbecken festhalten musste, weil ihr die Beine versagen wollten...