Köln - 13:30 Uhr
Immer wieder fielen dem jungen Mann im Fernzug die Augen zu, immer wieder schreckte er hoch, wenn er spürte, einzunicken. Sein Griff um den Rucksackträger wurde dann fester, als müsse er ihn festklammern, weil ihn jemand entreissen wollte. Oder klammerte er sich selbst an dieses Stück Stoff, das Letzte was ihm vorerst von der Heimat blieb? Seine Augen blickten auf, blickten umher als würden sie jemanden suchen. Dabei wollte er eigentlich nur prüfen, ob sich mittlerweile jemand in seine Nähe gesetzt hatte, der vorher noch nicht dort saß. Doch scheinbar war er so lange nicht eingenickt. Schräg vor ihm saß immer noch die ältere, sehr fein angezogene Frau, die die Illustrierte scheinbar nur mit den Fingerspitzen berührte. Gegenüber vom Mittelgang saß ein dicklicher Mann mit Vollbart und Blaumann, die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen und friedlich nickend. Scheinbar kehrte er gerade von der Schicht nach Hause. Und hinter ihm kicherten immer noch zwei Mädels albern, die sich übers Handy vermutlich Beauty-Tipps über Youtube holte. Der Junge atmete durch... der Rucksack war noch bei ihm, das war wichtig. Er strich sich eine schwarze Strähne, die ihm öfters übers Gesicht hing, aus dem Auge und versuchte sein etwas längeres Haar zu bändigen. Würde er nachher in die Kälte treten, hatte er eine Mütze und er würde sofort anders aussehen. Dann würde er sich auf die Suche machen ... auf die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Der Junge mit der schwarzen Strähne hieß Felix Kreutzner. Er war vor wenigen Tagen 17 geworden und stammte eigentlich aus Hamburg. Von dort aus führte ihn sein Weg auch jetzt gerade nach Köln. Felix kam aus dem, was man wohl im Volksmund ein "zerrüttetes Elternhaus" nennen würde. Seine Mutter war früher eine drogenabhängige Prostituierte, heute ist sie nur noch drogenabhängig und alkoholkrank. Eine Frau, die zwischen Apathie, Rausch und Entzugsphasen hin und her pendelte, die ihrem Sohn nichts geben konnte ausser, dass sie als Vormund im Mietvertrag der kleinen Wohnung stand. Sie erhielt Stütze, den Rest besorgte Felix. Mit Zeitung austragen, Flaschen sammeln und Kurierdienste. In den Hamburger Kreisen gab es eine gut funktionierende Drogenszene, in die er sich einspannen ließ. Immerhin konnte er von sich sagen, dass er das Zeug, dass er mit seinem Fahrrad umherkutschierte, selbst nicht nahm. Höchstens, dass er mit seinen damaligen Freunden mal kiffte.
Dass er selbst unter diesem Voraussetzungen seiner Mutter halbwegs gesund zur Welt kam, glich einem Wunder. Vielleicht war es auch nur Zufall, dachte der Junge oft. Genauso Zufall, wie seine Zeugung. Brutaler ausgedrückt, würde man es vermutlich Unfall nennen. Felix' Mutter ließ sich im Drogenrausch von einem Freier schwängern, und er selbst war das Ergebnis. Ungewollt in eine graue harte Welt in Hamburg geboren, in der er sich ab dem siebten Lebensjahr beinahe alleine behaupten musste. Es prägte ihn.
"Nächster Halt: Köln Hauptbahnhof" klang es aus der Lautsprecherdurchsage. Felix hatte keine Angst vor einer fremden Stadt, er hatte keine Angst vor den nächsten Tagen oder Wochen ... je nachdem wie lange er hier bleiben würde. Er würde sich durchkämpfen, er würde vermutlich bei Minusgraden, die in den nächsten Tagen angesagt waren, bei Pennern unter Brücken schlafen, aber darauf war er vorbereitet. Er war nicht besonders groß, schmächtig und unheimlich gelenkig. Trotz der schwierigen Situation zuhause suchte Felix nach einem Ausgleich und fand ihn in Hamburg in Sportvereinen. Zuerst blieb er beim Hürdenlauf hängen, danach ging er in einen Kletterverein. Heute war der Junge unheimlich schnell auf den Beinen und wieselflink an allem hochgeklettert, was auch nur im entferntesten einen Halt bot.
Es zeigte sich von Vorteil bei Drogengeschäften, die schief liefen. Denn mit Worten wehren ... dafür war Felix nicht schlagfertig und frech genug. Und mit Fäusten wehren war schon gar nicht seine Disziplin. Deswegen war der schnelle geordnete Rückzug immer das Mittel der Wahl, und selbst wenn man ihn mit einem Auto verfolgte, verschwand er oft über Gartenzäunen, kletterte an Gerüsten hoch und schaffte es immer wieder zu entwischen. Das half ihm auch bei zwei Einbrüchen in eine Apotheke.
Dass er jetzt nicht bei seiner Mutter in Hamburg war und versuchte, neben seinen gelegentlichen Schulbesuchen Geld für sie zu verdienen, hatte einen besonderen Grund. Einige Tage nach seinem 17. Geburtstag lüftete seine Mutter, in einem der wenigen "lichten" Momente, das Geheimnis, dass sie noch ein Kind habe, von dem aber niemand etwas wisse. Sie wusste noch dass es mit einem Zuhälter geschah, und dass dieser ihr mit dem Tod drohte, wenn sie versuchen würde, für das Kind irgendein Sorgerecht zu erstreiten. Durch den Drogen- und Alkoholkonsum waren ihre Erinnerungen nur lückenhaft, das Zeitgefühl stimmte nicht und alles, was sie besaß, war ein Foto, dass irgendwann mal in der Post lag und angeblich ihre Tochter sein sollte. Felix konnte es schwer glauben, das Mädchen auf dem Foto schien jünger zu sein als er, doch seine Mutter war von diesem Gedanken nicht abzubringen. Wenn er selbst noch ein Kleinkind gewesen war... könnte er sich jetzt daran erinnern, dass seine Mutter mal schwanger war, als er 2 Jahre alt war? Er glaubte seiner Mutter.
Ansonsten wusste sie nichts mehr. Weder den Namen des Zuhälters, noch die genaue Gegend, wo er mit ihr und einem weiteren Jungen hinzog, ausser dass es Köln "oder so" war. Selbst den Namen ihrer Tochter wusste sie nicht mehr, das Kind war damals keine sechs Wochen alt, als der gewalttätige Zuhälter Hamburg verließ. Doch sie hegte den Wunsch, ihre Tochter wenigstens kennen zu lernen... oder einfach nur zu wissen, ob es ihr gutging.
Deswegen war Felix, schweren Herzens, nach Köln aufgebrochen. Harald, ein guter Freund, der die Tafel in dem Hamburger Viertel betreute, wo Felix lebte, versprach ihm, öfters nach seiner Mutter zu sehen und sich zu kümmern, damit der Junge seiner Mutter vielleicht diesen Wunsch erfüllen konnte. Und so packte er seinen Rucksack mit Klamotten, plünderte das bisschen an Ersparnisse, was er Monat für Monat entbehren konnte für das Zugticket, damit er nicht kurz hinter Lüneburg aus dem Zug geschmissen wurde, wenn er Schwarz fuhr und fuhr mit dem festen Ziel nach Köln, seine Schwester zu finden. Das einzige, was er an Informationen hatte, war Köln "oder so" und ein einzelnes Foto eines jungen Mädchens, mit leuchtenden Augen, schwarzen Haaren und einem positiven, ansteckenden Lachen. Obwohl Felix das Mädchen nie gesehen hatte, musste er immer ungewollt lächeln, wenn er dieses Foto betrachtete. Und er versprach seiner Mutter gerade, als der Zug in Köln einfuhr, per WhatsApp-Nachricht, diese vermutlich erst in ein paar Tagen lesen würde, dass er ihre Tochter, seine Halbschwester finden würde. Das Mädchen mit den schwarzen Haaren.