Kölner Innenstadt - 15:00 Uhr
Es dauerte etwas, bis sich Felix' Puls beruhigte. Selbst nachdem er sicher war, dass er den Kerl mit den langen schwarzen Haaren abgehängt hatte und bereits nach einer Busfahrt wieder in der Kölner Innenstadt angekommen war, hatte er das Gefühl, dass er Kammerflimmern bekam. Mit schnellen Schritten lief er durch die Fußgängerzone, liess sich von der Obdachlosen Klara, die er vor einigen Tagen kennengelernt hatte, nicht lange aufhalten und blickte sich immer wieder nervös um. Sie waren jetzt hinter ihm her... scheinbar hatte er etwas gehört oder gesehen, was er nicht hören oder sehen durfte. Fuck, was sollte er jetzt tun? Abreisen? Sich in den nächsten Zug zurück nach Hamburg setzen und nie wieder zurück kommen?
Vermutlich hätte jeder Junge, der gerade die Angst von Felix im Nacken hatte, genau so entschieden. Doch sowohl die Sehnsucht danach, seine Schwester zu finden, als auch ein anderes Mädchen mit schwarzen Haaren in seinem Kopf, hielt ihn davon ab. Chloe. Ihre Wut, ihre Traurigkeit und ihre Enttäuschung hatte sich in seinen Kopf gebrannt. Die Enttäuschung über den falschen Verdacht, Felix hätte sich nur wegen ihrer Schwester und vor allem wegen der Apotheke ihres Vaters an sie "heran gemacht". Hatte er sich heran gemacht? Er war doch nur freundlich ...
Während er durch die Straßen lief und nicht wusste, wo er hin sollte, begann der Regen seine Stoffkapuze des Pullovers zu durchweichen. Er vermied das besetzte Haus, denn er hatte immer noch Angst, verfolgt zu werden und somit alle Bewohner in Gefahr zu bringen. Wobei er schon mit bekam, dass es für "falsche" Personen im Haus ziemlich unangenehm werden konnte. Irgendwann verkroch er sich unter eine Brücke im Stadtpark, wo sich die Fußgängerwege kreuzten. Er saß dort im Halbschatten, man würde ihn wohl nicht direkt sehen, wenn er dort saß. Er zückte sein Handy und wollte schon eine Entschuldigungs-Nachricht an Chloe tippen, doch nach dem dritten Versuch, etwas zu formulieren was sich nicht peinlich anhörte, gab er es auf.
Stattdessen versuchte er nochmal sich zu erinnern. Der Typ, der ihm gerade eben hinter gerannt war, war weder der kleine grauhaarige noch der Kräftige gewesen, der ihm bis an die Bushaltestelle gefolgt war. Jetzt erst fiel ihm wieder ein, was er gerufen hatte... dass er von der Polizei sei. Felix hatte das während der Flucht gar nicht realisiert, weil in Stresssituationen sein Gehirn nicht einwandfrei funktionierte. Wie groß war die Chance, dass der Typ wirklich Polizist war? Und wenn ja, was wollten sie von ihm, er hatte doch nichts getan.
Größer war die Chance eher, dass es einer der Verbrecher war. Er wäre bei dem Wort "Polizei" stehengeblieben, und sie hätten ihn gehabt. Bei der Drohung: "Wir reißen dir die Ohren ab, weil du etwas gehört hast, was du nicht solltest." wäre Felix sicher nicht stehengeblieben. Er ließ seinen Kopf auf den Rucksack fallen und seufzte... dieser verfluchte Kopf. Hätte er nicht gerade bei Chloe einen Cluster-Anfall gehabt... was ja noch ein weiteres Problem offenbarte. Er hatte keine Medikamente mehr. Er wusste, dass Chloe welche hatte, er wusste aber auch dass er in jede Apotheke einbrechen könnte. Und wenn die Anfälle wieder kamen, und der Cluster nicht zufälligerweise jetzt beendet wäre, würden ihn die Schmerzen dazu zwingen.
Sollte der Mann aber tatsächlich von der Polizei gewesen sein, wäre er vermutlich in weiteren Schwierigkeiten. Denn die Polizei würde es wohl nicht dabei belassen, ihn in Ruhe zu lassen, wenn einer ihrer Beamten es für nötig hält, Felix zu Fuß zu verfolgen. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, seine Finger gruben sich tief in seine Haare. Verdammt, wie sollte er aus diesem Schlamassel nur rauskommen. Er hatte nichts verbrochen und wegen dem Ladendiebstahl wird man ihm wohl kaum so hartnäckig verfolgen. Er überlegte einen Moment, zu einer Wache zu gehen.
Doch der Regen wurde stärker in diesem Moment, und am liebsten hätte sich der Junge irgendwo ins Warme verkrochen. Er rollte sich am Nachmittag in seinem Schlafsack, den er im Rucksack mit sich trug, zusammen, doch trotz seiner Kleidung und Jacke wollte keine wirkliche Wärme aufkommen. Bei seiner Mutter zuhause in Hamburg war es zwar unordentlich, er musste sich um alles kümmern während seine Mutter wahlweise auf einem Trip, betrunken war oder schlief... aber es war zumindest warm. Er erfuhr daheim nur sehr wenig Liebe, weil seine Mutter in ihrem kaputten Zustand dazu nicht in der Lage war, aber es war wenigstens warm. Jetzt war es nur kalt und nass, seine Finger fühlten sich wie Eis an und seine Muskeln zitterten. Er würde es hier nicht lange aushalten...
Der Minutenzeiger schien fest zu frieren, denn es war gerade mal halb vier, als sein Smartphone sich meldete. Erstaunt und neugierig schaute er drauf und sein Herz wollte einen Hüpfer machen. "Wir müssen uns sehen. Um 18 Uhr, Schrebergarten Waldesruh, Grundstück Nr.8... der Schlüssel liegt unter dem dritten Blumenkübel. Ich warte auf dich. Es tut mir so leid. Chloe." Plötzlich fühlte Felix in sich doch eine Wärme aufspüren, nachdem er die Nachricht gelesen hatte. Eine Wärme, die das Zittern verdrängte und ihn lächeln ließ.