Anna blieb keine Zeit zum Ausruhen oder Nachdenken über Gabrielas Worte. Die entzündeten Wunden am Rücken und am restlichen Körper mussten ebenfalls gereinigt und versorgt werden. Die Ärztin hatte schon bemerkt, dass die Sedierung langsam nachließ. Verzweifelt suchte sie mit ihren Blicken den kleinen Medikamentenvorrat ab. Da war nichts mehr, was sie Ben zur Sedierung verabreichen konnte. Der Bestand an starken Schmerzmitteln war begrenzt und sie wollte deren Verabreichung solange wie möglich hinauszögern. „Halt noch ein bisschen durch Schatz!“ murmelte sie vor sich hin. Behutsam begann sie an der linken Schulterwunde die Wundränder zu säubern. Kleine Stofffasern und die Maden pulte sie mit einer Pinzette heraus, spülte mit dem letzten Rest Kochsalzlösung die Wunde aus. Diese Verletzung war entzündet und sah richtig übel aus.
Ihre Augen tränten von der Anstrengung Sie seufzte vor sich hin. Als sie ungefähr die Hälfte der Wunden gesäubert hatte, teilweise mit einer Naht verschlossen hatte, begann Ben seinen Kopf unruhig hin und her zu bewegen. Anna hatte ihn auf den Bauch gedreht, um leichter die Wunden aus seinen Rücken versorgen zu können. Sein Stöhnen wurde intensiver und lauter. Die Schmerzlaute glichen anfangs einem leisen Wimmern, wurden lauter und lauter. Seine rechte Hand war zu einer Faust geballt. Er krallte sie in die Bodenmatte, dass das weiße seiner Fingerknochen hervortrat. Er versuchte seinen Oberkörper aufzurichten und nur mit Mühe gelang es der jungen Frau ihn zurück in die liegende Position zu drücken.
„Ben … Ben … alles gut! … Um Himmels Willen bleib liegen! … Bitte!“ flehte sie ihn an. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, welche Qualen er im Moment durchlitt. „Alles gut … alles gut! … Ich gebe dir was gegen die Schmerzen! Aber bitte, bewege dich nicht mehr!“
Sie drehte sich zu den bereitgelegten Medikamenten um, wählte ein starkes Schmerzmittel aus und verabreichte es ihm. Seine dunklen Augen blickten sie angsterfüllt und voller Schmerz an.
Für Ben war das Auftauchen aus dem dunstigen Nebel der Dunkelheit, die ihn umgeben hatte, die Rückkehr in die Folterkammer. Irgendein wildes Tier schien sich in seiner linken Bauchseite festgesetzt zu haben und hatte begonnen, daran zu nagen, einzelne kleine Stückchen herauszureißen. Der Schmerz durchflutete jede einzelne seiner Körperzellen. Er wollte seinen Schmerz herausschreien, doch nur ein erbärmliches Stöhnen kam über seine Lippen. Sein Rücken brannte wie ein Höllenfeuer … probierte dieser grauhaarige Sadist wieder seine Schlachtermesser an ihm aus … seine Hände waren frei … er musste sich wehren … aufstehen … wegrennen ….Sein Herzschlag hämmerte … hallte in seinem Kopf wider. Sein Geist war völlig verwirrt … gaukelte ihm furchterregende Bilder vor … weg … er wollte weg … Auf einmal war da diese vertraute Stimme … Anna … was redete sie denn zu ihm … er spürte ihre weiche Hand an seiner Wange … etwas durchströmte seine Adern … verbreitete ein angenehmes Gefühl … der Schmerz ebbte ab. ….Langsam verstand er, was seine Freundin zu ihm sagte.
„Ich habe es gleich geschafft … nur noch eine dieser grauenhaften Striemen …. Ja, halt nur noch ein bisschen durch! Die kleinen Kratzer schaffst du auch noch!“
Der Nebel hüllte ihn wieder ein und er schien zu schweben. Langsam driftete er wieder ab in die Schattenwelt.
Als Anna bemerkte, wie sich der Körper ihres Patienten wieder ein wenig entspannte, fuhr sie mit ihrer Versorgung der Wunden fort. Den Abschluss bildeten die verschorften Brandwunden. Jede einzelne Verletzung führte Anna vor Augen, welche physische Gewalt und Qualen Ben in den letzten Tagen durchlebt hatte. Einige der Verletzungen waren mindestens schon über eine Woche alt. Sie fasste ihn am Oberarm und Schulter an und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. Unter seinen Kopf schob Anna eine der zusammengefalteten Decken, die ihr die junge Russin gebracht hat. Mit einer anderen deckte sie ihn sorgfältig zu und versuchte ihn auf der harten Unterlage so gut es ging zu betten. Zärtlich strich sie ihm eine der verschwitzten Haarsträhnen aus der Stirn und studierte sein Gesicht. Keine Regung, kein Zucken eines Muskels entging ihr. Mehr als einmal flatterten seine Augenlider und sie hoffte, dass er diese aufschlug. Längst hatte sie die blutverschmierten Handschuhe abgestreift und auf den Haufen mit blutdurchtränken Kompressen geworfen. Mit ihren Händen umschlang sie seine Rechte. Bildete sie sich es nur ein oder hatte er tatsächlich den Druck ihrer Finger erwidert? Sie verharrte einige Minuten in ihrer knienden Haltung und wartete. Aber aus einem schmerzerfüllten Stöhnen kam keine Reaktion mehr von Ben. Während die letzte Infusion über den Zugang in Bens Venen floss, sortierte Anna ihre verbliebenen Medikamente und das restliche Verbandsmaterial. Alles was sie nicht akut benötigen würde, legte sie zurück in den Rettungsrucksack. Nur Präparate, die sie für den Notfall benötigte, ließ sie griffbereit neben sich auf der Bodenmatte liegen.
Nachdem sie den leeren Infusionsbeutel ab gestöpselt hatte, lies sie sich völlig erschöpft neben ihrem verwundeten Freund nieder. Mehrmals hatte sie seine Vitalwerte geprüft. Seine Atmung war sehr flach und sie betete inbrünstig, dass sein Kreislauf nicht versagte oder es zu anderen Komplikationen kommen würde. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand an und kämpfte gegen ihre Müdigkeit an. Bens Kopf hatte sie auf ihrem Schoß gebetet. Keine Regung von ihm entging ihr. Mehr konnte sie im Augenblick nicht mehr für Ben tun. In ihren Gedanken betete sie darum, dass Semir sie und Ben finden möge.
Als draußen ein schmaler Lichtstreif am nächtlichen Himmel den kommenden Tag ankündigte, schlief sie vor Erschöpfung ein.