Zurück in der Villa – einige Zeit später
Verwirrt schreckte Anna hoch und schaut sich blinzelnd um. Anscheinend war sie ungewollt eingeschlafen. Die beginnende Abenddämmerung hatte den Kellerraum in ein diffuses Licht getaucht. Die Sportgeräte und das Eisengitter vor dem Fenster warfen bizarre Bilder an die Wand. Dann hörte sie wie ein Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt und umgedreht wurde. Die Tür wurde aufgeschlagen, so dass sie mit einem lauten Knall gegen die Wand krachte. Selbst Ben zuckte in seinem Zustand zusammen. Die Halogenlampen flammten auf und leuchteten den Raum aus. Geblendet kniff Anna die Augenlider zusammen und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich an die grellen Lichtverhältnisse gewöhnt hatte. Vorsichtig löste sie sich von Ben und kroch unter der Decke hervor.
Elena stand unter dem Türrahmen und blickte fragend in ihre Richtung. Ihr Begleiter, einer der für Anna unbekannten Zwillinge stand mit gezogener Waffe neben der zierlichen Russin. Als wenn ich eine Bedrohung darstellen würde, dachte die Ärztin ironisch bei sich, angesichts der Pistole. Durch die geöffnete Tür drang das Schreien und Wehklagen eines weiteren Mannes, wenn auch gedämpft, zu ihr durch. Anna konnte den Anflug eines Grinsens nicht unterdrücken. Ihr war klar, dass Remzi schon längst aus der Betäubung erwacht war und unter furchtbaren Schmerzen litt. Sie empfand nicht mal die Spur von Mitleid für den Serben. Im Gegenteil, sie gönnte ihm die Schmerzen von Herzen.
„Hallo!“, murmelte sie Elena zu, die einen Korb in den Händen hielt und sich langsam auf die Ärztin zu bewegte. Die Russin stellte den Weidenkorb auf den Boden und griff hinein. In ihren Händen befand sich ein kleiner Kochtopf, aus dem ein appetitlicher Geruch strömte.
„Essen!“, zusätzlich ermunterte sie mit Gesten, Anna ihr den Topf abzunehmen und reichte ihr anschließend einen Löffel.
Daraufhin holte sie Verbandsmaterial, Kompressen und Wundauflagen, zwei Flaschen mit isotonischer Kochsalzlösung und eine Tube mit einer pflanzlichen Heilsalbe aus der Apotheke aus dem Korb. Mit einer Spur des Bedauerns flüsterte sie Anna zu:
„Keine Tabletten! … Gabriela alles nehmen! … Leid tun!“
„Schon gut, Elena! … Schon gut! … Du hast es ja wenigstens probiert!“, die Ärztin konnte den resignierenden Tonfall nicht unterdrücken.
Kein Antibiotikum, kein Schmerzmittel für Ben, sie hatte schon damit gerechnet. Es war ein Teil dieses grotesken Spieles, welches die Kilic mit ihr trieb. Ohne weitere Worte verließen die beiden das Gefängnis, verschlossen die Tür und Anna war wieder allein mit Ben. Neben ihm ließ sich auf der Bodenmatte nieder. Sie seufzte abgrundtief auf, hob den Deckel vom Topf. Darin befand sich ein Eintopf. Sie hatte nach wie vor keinen Appetit und musste sich förmlich zum Essen zwingen. Auf einmal fühlte sie sich beobachtet. Ein Paar dunkle Augen schauten ihr beim Essen zu. Vor einigen Wochen hätte sie behauptet, der Geruch des Essens hat Ben geweckt. Doch ein Blick in seine Augen verriet ihr etwas anderes: Schmerz. Achtlos stellte sie den halbgeleerten Topf zu Seite und kümmerte sich zuerst einmal um ihren Patienten und versorgte ihn unter diesen primitiven Umständen so gut es ging. Am Ende bedeckte sie ihn mit einer leichten Wolldecke. Zärtlich strich Anna ihn mit ihren Fingerkuppen über seine Wangen.
„Versuch ein wenig zu schlafen!“, wisperte sie ihm zu.
Die Augen fielen ihm zu und sie hielt seine Hand umschlungen. Ihr Blick wanderte dabei von Ben zu dem geöffneten Fenster. Wehmut überfiel sie. Sie wünschte sich nichts sehnlichster, als das hinter den Gittern, die ihr den Weg in die Freiheit versperrten, das Gesicht von Semir auftauchte.
Doch stattdessen löste die Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht endgültig das fahle Licht der Dämmerung ab. Das Zirpen der Grillen drang zu ihr herein. Das Laub der Bäume rauschte leise im Nachtwind. Selbst die stickige Luft im Zimmer kühlte etwas ab. Bens Fieber war nicht weiter gestiegen. So keimte in ihr ein winziger Hoffnungsfunke, dass die Ursache der erhöhten Temperatur vielleicht eine Folge der Operation war und keine sich ausbreitende Infektion.
Anna lauschte der abgehackten Atmung von Ben. Nachdem sie das Licht im Raum gelöscht hatte, hatte sie sich hinter ihm auf die Matratze gelegt. Nach einigen Minuten kroch sie zu ihm unter die Decke und schmiegte sich so gut es ging an ihn heran. Liebevoll strich sie ihm immer wieder über die Wangen und seine Stirn. So sehr sie sich auch bemühte, ihre Augen offen zu halten, irgendwann konnte sie nicht mehr dagegen ankämpfen und ihr Körper nahm sich die Auszeit, die er dringend benötigte.
*****
Der nächste Morgen begann für Anna mit einem Schock. Ben glühte förmlich. Die Hitze seines Körpers versengte sie fast. Sie versuchte die Panik, die in ihr aufsteigen wollte, zu unterdrücken. Leise murmelte sie vor sich hin „Bleib ruhig, Mädchen! … Du musst stark bleiben, für Ben und das Baby!“
Vorsichtig löste sie sich aus seiner Umarmung und erhob sich. Sein Gesicht war leichenblass. Im krassen Kontrast dazu standen die vom Fieber geröteten Wangen und sein dunkler Vollbart. Seine Stirn wurde von kleinen Schweißperlen überzogen. Besorgt kontrollierte sie seine Atmung und seinen Puls. In ihrer Arzttasche suchte sie nach dem Fieberthermometer. Seine Körpertemperatur lag mittlerweile bei 39,7 Grad. Sie zog die Zudecke weiter zurück und untersuchte seine Verletzungen. Mit ihren Fingern tastete sie über seine Bauchdecke. Der Alptraum war zur Wirklichkeit geworden, die Schussverletzung im Bauchraum hatte sich scheinbar entzündet. Die junge Frau biss sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen und ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. Welche bescheidenen Möglichkeiten hatte sie denn noch um ihren Freund zu retten? Sollte sie die Einschussstelle nochmals öffnen, in der Hoffnung, dass die Infektion lokal begrenzt war und sie diese säubern könnte. Oder war doch der Schlimmste anzunehmende Fall eingetreten und der Darm war doch an einer anderen Stelle verletzt worden und sie hatte es bei den schlechten Lichtverhältnissen während der Operation einfach nicht erkannt. In Selbstgesprächen versuchte sie sich Mut zu machen, wog ihre Möglichkeiten ab.
Anschließend schlich sie ins angrenzende Bad. Zum wiederholten Mal begann sie die verbliebenen Medikamente durchzuschauen, die sie heimlich zwischen den Badetüchern versteckt hatte. Eine letzte Ampulle blieb ihr, um zumindest den Kreislauf ihres Freundes weiter zu stabilisieren. Doch sehr sie auch suchte, es befand sich kein schmerzstillendes Mittel mehr darunter. Nachdem sie Ben das Medikament verabreicht hatte, strich sie ihm liebevoll über die Haare, tupfte mit einem feuchten Tuch den Schweiß von seiner Stirn. Ihr Blick ruhte dabei auf der Stelle, wo gestern noch der Notarztkoffer gelegen hatte. Sie grübelte nach und schob die Unterlippe etwas vor. Was wäre wenn?
Anna ging auf die Knie. Sorgsam suchte sie den Boden, auch unter den Fitnessgeräten, nach Medikamentenampullen ab. In ihr keimte die Hoffnung vielleicht noch irgendwo ein lebensrettendes Glasfläschchen zu entdecken, das nicht der Zerstörungswut des Grauhaarigen am gestrigen Morgen zum Opfer gefallen war. Unter dem Laufband glitzerte es verdächtig. Anna legte sich flach auf den Boden, was mit ihrem kleinen Babybauch gar nicht so einfach war, streckte sich lang und versuchte mit ihren Fingern das kleine Fläschchen zu ertasten. Nach einigen Schwierigkeiten gelang es ihr den kleinen Glaskörper zu ergreifen und hervorzuholen. Überglücklich betrachte sie das Etikett auf der kleinen Ampulle. Es war ein Opiat. Zumindest ein bisschen konnte sie Bens Leiden lindern.
„Wir schaffen das zusammen mein Schatz! … Halt einfach nur durch!“, beschwor sie ihn, während sie das Schmerzmittel spritzte. Anna war sich sicher, dass ihre Worte zu ihm durchdrangen.
Nachdenklich durchsuchte sie den Inhalt ihrer Arzttasche, den sie auf die Bodenmatte geschüttet hatte und betrachtete ihre verbliebenen medizinischen Hilfsmittel. Ein Skalpell hatte sie noch, das steril verpackt war. Ihre letzte Option? … Inbrünstig wünschte sie sich, dass die Dosis des Opiats ausreichte und Ben so weit in seinem Dämmerzustand weggetreten war, um die notwendige Wundversorgung durchführen zu können. Sie löste vorsichtig den Verband der Schusswunde. Ben zuckte nicht einmal zusammen, als sie das Skalpell ansetzte, doch das änderte sich. . Mehr als einmal musste sie Ben mit ihren Händen fixieren und beruhigen, der sich bewusst oder unbewusst gegen die äußerst schmerzhafte Behandlung wehrte. Sie entfernte am Wundrand infektiöses Gewebe, säuberte die Wunde. Eine Flasche mit Kochsalzlösung opferte sie, um die Verletzung so gut es ging auszuspülen. Zum Schluss sorgte die Ärztin mit einer improvisierten Drainage dafür, dass das Wundsekret abfließen konnte.
Anschließend widmete sie sich den Peitschenstriemen an der linken Schulter. Sorgsam reinigte sie auch hier die Wunden nochmals, versuchte das entzündete Gewebe zu entfernen. In ihrer Arzttasche hatte sie eine Packung Medizinischen Honigs gefunden, die ihr ein Pharma- Vertreter zu überlassen hatte. Der Typ hatte ihr und auch ihren anderen Arztkollegen das Produkt als wahres Wundermittel in der Heilung von infizierten Wunden angepriesen. „Dann beten wir mal um ein Wunder!“, flüsterte sie vor sich hin, als Anna auf den entzündeten Wunden im Rückenbereich auftrug. Die restlichen kleinen Verletzungen, die von Wundschorf bedeckt waren, bestrich sie mit der Heilsalbe.
Sorgfältig deckte sie ihren Freund mit einem Bettlacken zu.
„Das war es Ben! Mehr kann ich im Augenblick nicht mehr für dich tun!“, murmelte sie erschöpft und sank an der kühlen Betonwand in sich zusammen.