In knappen Sätzen erläuterte der dunkelhaarige Polizist Anna seinen Fluchtplan, bei dem Elena eine Schlüsselrolle spielen sollte.
„Du bist verrückt Ben!“, fiel ihm die Dunkelhaarige ins Wort, stand auf und trippelte nervös vor dem Bett auf und ab. „Völlig verrückt! … Das wird niemals funktionieren. … Niemals! … Wie willst du das schaffen? In deinem Zustand! … Schau dich doch einmal an, du bist noch viel zu schwach!“
Sie hielt inne, blieb vor ihm stehen und schluckte den Rest ihrer ärztlichen Ratschläge lieber mal runter. War ihr doch klar, dass sie bei ihrem Freund auf taube Ohren stoßen würde.
„Sag mir nicht, was ich kann oder nicht kann mein Engel! Es wird Zeit, dass ich anfange, wieder auf meinen Beinen zu stehen. Das wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen! Wenn Elena Recht hat, bleibt uns nicht mehr viel Zeit! Ein Tag? Vielleicht auch zwei? Oder nur noch eine Nacht? Bandagieren mir den rechten Unterschenkel und hilf mir anschließend ins Bad zu kommen!“
Anna entwich deutlich hörbar ihre Atemluft. Insgeheim gab sie Ben ja Recht. Es gab keinen anderen Ausweg. Sie streute das Verbandsmaterial auf die Zudecke und suchte nach ein paar geeigneten Binden. Bei ihren eingehenden Untersuchungen Tage vorher hatte Anna den Verdacht gehegt, dass Bens Schienbein durch den massiven Schlag von Gabriela angebrochen worden war. Fachmännisch legte sie ihm einen Verband an, der den Bruch bei Belastung stabilisieren sollte.
Als seine Freundin fertig war, atmete Ben noch einmal tief durch, umfasste Annas Schultern und richtete sich endgültig zum Stand auf. Eisern behielt Ben seine Gesichtszüge unter Kontrolle.
„Geht es?“, fragte Anna vorsichtig nach.
Ben nickte. Der erste Schritt, gestützt auf Anna und dem Bett, war der reinste Horror für den verletzten Polizisten. Wie glühende Nadelstiche zog der Schmerz von seinen Zehen bis in die letzte Haarspitze, jede Körperzelle rebellierte, sandte ihr eigenes Schmerzsignal aus. Er biss die Zähne zusammen und konnte in letzter Sekunde einen schmerzhaften Aufschrei unterdrücken. Kein verräterisches Zucken zeigte an, welche Anstrengung und Überwindung es ihm kostete einen Schritt vor den anderen zu setzen. Nur keine Schwäche zeigen, wenn du jetzt und hier zusammenklappst, wird es keine Chance auf Flucht geben, sprach er sich selbst Mut zu. Scharf sog er die Luft durch die Nasenflügel. Mit einem unbändigen Willen schaffte es Ben, den Weg zur Toilette und nach einigen Minuten wieder zurück zum Bett zu meistern. Sein Kreislauf spielte mehr als einmal bei seinem kleinen Ausflug verrückt. Ausgelaugt und am Ende seiner Kräfte, gelangte er zurück ins Schlafzimmer. Er benötigte äußerste Konzentration, um nicht wie ein nasser Sack auf sein Bett niederzusinken. Seine Stimme vibrierte leicht „Geschafft!“, als er flach auf der Matratze lag. Ein triumphierendes Grinsen überzog sein schweißnasses Gesicht. Minuten später war er vor Erschöpfung eingeschlafen.
In der kommenden Nacht und dem folgenden Tag arbeitete Ben verbissen daran, seine körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern, vor allem wenn nicht die Gefahr bestand, dass einer der Entführer unerwartet im Zimmer stand.
*****
Währenddessen …. In der Brüsseler Innenstadt
Semir und seine Kollegen tappten noch immer im Dunkeln. Alle Spuren, alle Hinweise, die er und seine Kollegen auf der Dienststelle verfolgt hatten, hatten im Nichts geendet. Es schien fast, als wäre Gabriela Kilic und mit ihr Ben und Anna spurlos verschwunden.
Seit dem versuchten Überfall auf den Türken vor einigen Tagen beobachteten Semir und seine Kollegen heimlich den Rechtsanwalt Hinrichsen auf Schritt und Tritt in ihrer Freizeit. Der kleine Kommissar klammerte sich förmlich an diesen letzten Strohhalm, dass der zwielichtige Anwalt ihn zum Versteck von Gabriela Kilic und somit zu Ben und Anna führen würde. Kim Krüger und den Oberstaatsanwalt hatte er in diese eigenmächtige Überwachungsaktion nicht eingeweiht. Zu groß war seine Angst, dass durch irgendein Leck dem Anwalt diese Information zugespielt werden könnte.
Aus diesem Grund war Kollege Bonrath Dr. Hinrichsen am gestrigen Tag von Köln nach Brüssel gefolgt. Der Rechtsanwalt war zusammen mit seiner Frau in dem Luxushotel „Royal Windsor Hotel“ im Stadtzentrum von Brüssel für zwei Nächte abgestiegen. In dem hoteleigenen Restaurant hatte sich Dr. Hinrichsen mit Frau abends mit einem Ehepaar zu einem gemeinsamen Dinner getroffen. Wegen seiner nicht angemessenen Kleidung wurde dem großgewachsenen Autobahnpolizisten der Zutritt zum Nobel-Restaurant untersagt und der Portier bat ihn höflich, aber bestimmend, die Hotellobby zu verlassen. Da der schlaksige Polizist kein Aufsehen erregen wollte, hielt er sich an die Anweisung des Hotelpersonals, verließ das Hotel und fuhr zurück nach Köln. Gemäß Absprache übernahm Kollege Tacho die Überwachung des windigen Anwalts.
Als der blonde Polizist am darauffolgenden Morgen in Brüssel eintraf, musste er enttäuscht feststellen, dass der Rechtsanwalt samt Gattin in den frühen Morgenstunden abgereist war. Er verständigte Semir. Der Türke hatte nach seiner Nachtschicht gerade mal zwei Stunden geschlafen. Völlig verschlafen meldete er sich am Handy.
„Morgen! … Wer stört?“
„Ich bin es Semir. Der verdammte Rechtsverdreher ist uns wieder mal durch die Finger geschlüpft. Er ist kurz vor meiner Ankunft hier in Brüssel abgereist. Wie gehen wir weiter vor? Ich höre mich auf jeden Fall im Hotel einmal um. Vielleicht weiß ja eine der Angestellten, was das nächste Reiseziel unseres Anwalts ist. Überprüfst du sicherheitshalber, ob der Kerl zurück nach Köln gefahren ist.“
Die beiden Polizisten stimmten ihr weiteres Vorgehen ab und beendeten das Telefongespräch. Einer Dusche mit kalten Wasser folgte noch ein Kaffee Marke Extra stark zum wach werden. Daraufhin fuhr der Kommissar zur Villa des Verdächtigen in einem Kölner Vorort. Das vergitterte Eingangstor erlaubte einen Einblick auf das äußerst gepflegte und großzügige Grundstück am nördlichen Stadtrand von Köln. Leise pfiff er durch seine Lippen. Der Rechtsanwalt gehörte auf jeden Fall zu den Großverdienern seiner Berufsgruppe.
„Irgendwie habe ich den falschen Job gewählt.“, murmelte Semir zu sich selbst und sondierte von seinem Standort aus das Grundstück. Negativ, lautete die erste Analyse des Türken. Der auffällige Audi SUV stand nicht in der Auffahrt zum Haus, obwohl der Anwalt die Fahrstrecke locker in der Zeit seiner Abreise in Brüssel hätte bewältigen können.
„Ich krieg schon raus, wo du abgeblieben bist!“, führte Semir das Gespräch mit sich selbst weiter, während er den Klingelknopf drückte. Sofort richtete sich die Überwachungskamera am Torbogen auf ihn. Eine tiefe Frauenstimme meldete sich am anderen Ende der Gegensprechanlage.
„Guten Morgen, Sie wünschen bitte?“
„Guten Morgen, mein Name ist Karim Gülcan von den Stadtwerken Köln. Ich müsste mal an den Stromzähler dieses Anwesens!“
„Tut mir Leid Herr Gülcan, aber Dr. Hinrichsen hat mir keine Anweisung hinterlassen, die auf ihren Besuch hinweist. Der gnädige Herr und seine Gattin werden frühestens am Sonntag in Köln zurück erwartet.“
Semir hätte fast das Kotzen gekriegt, als die Haushälterin Dr. Hinrichsen so mit so viel Ehrfurcht in der Stimme als „gnädiger Herr“ bezeichnet hatte. Er räusperte sich kurz und wollte etwas erwidern, als die Frau sich scheinbar rechtfertigen wollte.
„Bitte, verstehen Sie! Der gnädige Herr wünscht keine unangemeldeten Besucher auf dem Grundstück und schon gar nicht in seinem Haus. Ich weiß, dass Sie ja nur den Zählerstand benötigen. Kommen Sie doch am Montag wieder vorbei!“
„Ja danke! Kein Problem. Meine Kollegen werden den nächsten Besuch vorher telefonisch ankündigen!“, versuchte er sich geschickt aus der Affäre zu ziehen.
Langsam schlurfte Semir wieder zurück zu seinem Dienstwagen. Unbewusst hatte ihm die Dame alles verraten, was er wissen wollte. Dr. Hinrichsen hielt sich nicht in Köln auf. Machte er mit seiner Frau eine Vergnügungsfahrt oder hatte seine Reise einen geschäftlichen Hintergrund. Wie bereits am vergangenen Wochenende war es dem Kerl gelungen, der Überwachung durch ihn und seinen Kollegen zu entgehen. Fieberhaft überlegte der Kommissar auf der Fahrt zur Dienststelle, wie er an den Aufenthaltsort dieses aalglatten Typen kommen konnte.