05.April 2004
PAST, 17:10 Uhr
„Ist das nicht ein bisschen obsessiv?“
„Bitte was?“ Semir blickte erstaunt auf, als sein Partner plötzlich hinter ihm stand.
„Ich meine ich verstehe das Prinzip der Konfrontationstherapie ja, aber man kann es auch übertreiben...“
„Der Konfron- Was...?“ Gerkhan war ernsthaft irritiert.
„Ach, vergiss es.“ Ben winkte ab, fragte dann aber doch noch: „Stört es dich wirklich so sehr, dass die Kerle heute entkommen sind? Ich meine das passiert halt manchmal. Wir können ja nicht immer gewinnen...“
„Ja, also ich meinen nein...“ Semir grinste leicht verlegen. „Es stört mich natürlich schon, aber nicht so schlimm wie du denkst. Es irritiert mich eher.“
„Okay...“ Ben sah ihn jetzt aufmerksam an, keine Spur von Witz mehr auf seinem Gesicht.
„Mir kommt die Fahrweise des Fluchtwagens irgendwie bekannt vor. Aber ich kann einfach nicht sagen warum, oder was mir so bekannt vorkommt. Vielleicht sehe ich auch einfach Gespenster...“
„Zeig mir die Aufnahmen nochmal.“ Gemeinsam sahen sie sich die Aufnahme an und Ben kam nicht umher, seinem Partner recht zu geben:
Auch ihm kam irgendetwas bekannt vor. Er spulte an verschiedene Stellen, die er sich dann mehrfach ansah, bis es ihm schließlich wie Schuppen von den Augen fiel, als er sich die Überquerung einer Kreuzung mehrfach hintereinander ansah.
„Ich kann dir sagen was dir so bekannt vorkommt: Der Fährt wie ein Bulle.“
Semir riss die Augen auf! Natürlich! Wieso hatte er das nicht gleich selber erkannt?
„Chefin!“
-
„Die Art wie der Kerl auf die Kreuzung fährt und noch ein paar andere Stellen. Das ist eins zu eins das, was wir alle während unserer Ausbildung beim Fahrtraining gelernt haben. Die meisten fahren Blindlinks drauf los, wenn sie verfolgt werden, der Typ nicht. Der weiß genau was er tut!“
Anna konnte dem nicht widersprechen und nickte anerkennend. Das hatten die Beiden sehr gut erkannt.
„So, wie die Überfälle in den Akten der Kollegen beschrieben sind, können wir davon ausgehen, dass es sich sehr wahrscheinlich um dieselben Täter handelt. Wir können damit wohl auch davon ausgehen, dass es sich bei ihnen um Franzosen handelt.“
Sie warf einen weiteren Blick auf den Fernseher. „Wenn der Fahrer wirklich Polizist ist oder war, gibt es in Frankreich ernstzunehmende Konkurrenz für sie, meine Herren.“
„Naja... Also...!“ Semir und Ben blickten etwas pikiert drein, während ihre Chefin ihnen einen schönen Feierabend wünschte, da es für sie höchste Zeit wurde nach Hause zu fahren, wo ihr kleines Monster schon wartete.
„Ein französischer Kollege der besser Autofährt als ich... Soweit kommt’s noch!“ brummte Gerkhan, als Anna zum Abschied winkte.
06. April 2004
Villa am Stadtrand von Köln, 06:05 Uhr
Er schreckte atemlos aus dem Schlaf auf und sah sich kurz panisch in dem schwachbeleuchteten Raum um.
In dem Zimmer war alles wie immer und er begriff langsam, dass die Geräusche, die ihn vermeidlich geweckt hatten, wohl in seinem Traum vorgekommen waren.
Er atmete langsam und tief ein und aus, griff dabei nach einer Wasserflasche, die auf dem Nachtischchen stand und leerte sie mit wenigen Zügen zur Hälfte.
Er kannte den Traum bereits, hatte er ihn doch schon einige Male aus dem Schlaf gerissen. Es war jedoch schon recht lange her, seit er ihn das letzte Mal heimgesucht hatte. Aber es war noch immer, mehr oder weniger, das Gleiche:
Er jagte anscheinend ziellos mit hoher Geschwindigkeit über eine Autobahn. Die Szenerie änderte sich und er sah die Umrisse mehrerer, wie er glaubte, Büroräume. Fand sich dann vor einem Schreibtisch sitzend, neben ihm ein anderer Mann, dessen Gesicht er jedoch nicht wirklich scharf sehen konnte.
Im Gegensatz dazu, war das Gesicht der Frau, die ihm gegenübersaß, deutlich zu erkennen. Er konnte nie hören was sie sagte, aber sie wirkte jedes Mal unterkühlt und streng.
Kurz darauf war er jedoch mit derselben Frau in einer Wohnung und sie saß ihm lachend gegenüber. Ihre Augen leuchteten und jegliche strenge war aus ihrem Gesicht verschwunden. Anscheinend schienen sie sich besser zu kennen, denn das letzte Bild, was er immer von ihr sah, war ihre nackte Silhouette, die neben ihm lag.
Danach änderte der Traum sich jedes Mal:
Einmal hatte er Bilder eines Mannes gesehen, der aus einem Helikopter sprang, ehe er aufwachte. Ein anderes Mal hatte er ein Motorboot gesehen, das über das Meer schoss. Gerade eben, war es die Explosion eines Autos gewesen, die ihn aus dem Schlaf geholt hatte.
Als er den Traum vor einigen Jahren das erst Mal gehabt hatte, hatte er wie von Sinnen versucht raus zu bekommen wer die Unbekannte aus seinem Traum war.
Hatte sich gefragt, ob sie vielleicht seine Frau oder Freundin gewesen war. Beinahe wäre er daran zu Grunde gegangen. Mittlerweile war es ihm fast schon egal.
Er hatte sich damit abgefunden, dass er sich nicht erinnern konnte. Das er nicht wusste, wer er bis vor ziemlich genau fast fünf Jahren gewesen war, als er sein Gedächtnis verloren hatte.
Warum er ausgerechnet jetzt wieder diesen Traum gehabt hatte, irritierte ihn jedoch mehr, als er zugeben wollte.
Insgeheim hoffte er wohl noch immer, irgendwann zu erfahren wer Sie war. Zu erfahren wer Er selber war. Oder gewesen war...
Zudem fühlte er, dass es bei ihm unter der Oberfläche mächtig brodelte und hatte immer mehr den Eindruck, als versuche sich etwas aus seinem Unterbewusstsein an die Oberfläche zu kämpfen. Und dass schien sowohl mit der Stadt, in der er sich befand zu tun zu haben, als auch mit der Verfolgungsjagt vom gestrigen Morgen.
Vor dem Fenster war die Sonne kurz davor sich über den Horizont zu schieben und da er eh nicht mehr schlafen konnte, stieg er in seine Sportsachen. Renard hoffte, dass er beim Laufen wieder einen etwas klareren Kopf bekommen würde.