Blue Velvet
Anfang April
"Nicht gerade eine Empfehlung, Ihre letzte Beurteilung", meinte Wolfgang Koch und zog die rechte Augenbraue in die Höhe. Sein abschätzender Blick wanderte an der schlanken Gestalt seines Gegenübers entlang, bis er ihm in die Augen sehen konnte. Allerdings nur kurz, weil dieser ihm auswich.
"Ach, wir hatten ein paar Meinungsverschiedenheiten", murmelte Tom Kranich sichtlich genervt. "Wir haben nun mal einen hohen Materialverbrauch, die Autobahn ist kein besonders ruhiger Einsatzort." - "Aber dafür um so gefährlicher", bemerkte Koch. "Vor allem für diejenigen, die sich mit Ihnen angelegt haben." Er studierte kurz einen Abschnitt in Kranichs Personalakte. "Oder wie kam es zu der Beinahe-Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung?"
Tom verdrehte die Augen, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fuhr sich mit der Linken durchs Haar. "Der Typ wollte sich nicht festnehmen lassen, ich musste ihn erst nachdrücklich davon überzeugen, mitzukommen." - "Mit den Fäusten?", hakte Koch nach. "Ich musste mich verteidigen, ich hatte keine andere Wahl", wehrte Kranich ab. "Aber sicher die M?glichkeit aufzuhören, bevor sie dem Verdächtigen zwei Rippen, Jochbein und Nase brachen.."
Hauptkommissar Koch schob den Kiefer hin und her, kaute einen Moment auf der Unterlippe. "Wir brauchen hier keine Polizisten, die sich nicht im Griff haben, Kranich. Vor allem in unserem Bereich nicht! Da ist zwar Durchsetzungsvermögen, aber auch Fingerspitzengefühl gefragt." - "Das habe ich, wenn es drauf ankommt", versicherte Tom vehement. "Geben Sie mir die Chance, es zu beweisen!"
Einen Augenblick war es still im Raum. Dann atmete Koch tief ein und nickte. "Okay. Sie bekommen Ihre Chance, Kranich. Ich erwarte Sie Montag um 9 Uhr zum Dienstbeginn." Tom erhob sich und erlaubte sich ein angedeutetes Lächeln. "Danke. Sie werden es nicht bereuen, Herr Koch." - "Das hoffe ich, Kranich. Für Sie..."
***
"Und wenn Sie mir tausend Mal am Tag sagen, dass Sie mit meiner Entscheidung nicht einverstanden sind, Semir", seufzte Anna Engelhardt, "Kranich musste gehen! Sonst wäre er für alle Zeiten erledigt gewesen." Sie seufzte und ließ sich in ihren Sessel fallen. "Sie haben ja keine Vorstellung davon, was im Präsidium abging! Es hat nicht viel gefehlt und man hätte ihn vor Gericht gestellt und in den Knast geschickt. Dass er überhaupt noch Polizist ist erscheint mir schon wie ein Wunder, nach den Drohungen des Polizeipräsidenten."
"Verdammt, wieso tut auf einmal jeder, als wäre Tom ein gemeingefährlicher Schläger?", schimpfte Semir. "Dieses Ar'schloch hat ihn doch zuerst angegriffen und dann noch hochgradig provoziert!" - "Trotzdem hätte er sich soweit zusammenreißen müssen, dass es ohne gebrochene Knochen ausgeht!", erwiderte Anna müde. "Bitte, Semir ? lassen Sie es dabei bewenden und konzentrieren Sie sich auf Ihre Arbeit, ja? Ich möchte Sie nicht auch noch verlieren."
Gerkhan grummelte noch einige unverständliche Worte in seinen Bart, zog sich aber in sein eigenes Büro zurück. Missmutig wälzte er Akten hin und her, ohne überhaupt zu registrieren, was er tat. Diese ganze Angelegenheit schmerzte zu tief, als dass er sich ernsthaft mit den Fällen auf seinem Schreibtisch beschäftigen konnte.
Man hatte seinen Partner und besten Freund suspendiert und vor den Disziplinarausschuss gezerrt. Tom wurde abgemahnt, einen Rang inklusive Gehaltsklasse zurückgestuft und dann in eine Abteilung mit schauderhaftem Ruf versetzt. Sein neues Arbeitsgebiet war das Rotlichtmilieu... Und all das wegen eines vorbestraften Junkies, der sich mit Gewalt gegen seine Festnahme gewehrt hatte! Es war einfach nur zum Heulen.
Semir schloss die Augen und vergrub das Gesicht in den Händen. Keine zwei Jahre arbeiteten sie wieder zusammen, nachdem Tom zurückgekehrt war. Und nun erneut getrennt. Scheiß-Sesselfurzer, die einen Dreck von den täglichen Gefahren in diesem Revier wussten! Und davon, wie wichtig ein aufeinander eingespieltes Team war, das sich blind vertrauen konnte. So wie Tom und er. Aber wen interessierte das in den oberen Etagen? Kein Schwein. Aus und vorbei...
***
"Das ist nicht dein Ernst, oder?" Tom starrte seinen Kollegen Maik Rothe verdutzt an. Dieser grinste breit und zuckte mit den Schultern, während er sich abschnallte. "Kannst ja im Wagen bleiben, wenn du willst. Aber ich garantiere dir, dass es drinnen gemütlicher ist." Er stieg aus und wandte sich danach dem Gebäude zu, vor welchem sie parkten. Tom überlegte nur kurz, ehe er den Dienstwagen verließ und Rothe folgte.
Gleich darauf betrat er mit gemischten Gefühlen das "Blue Velvet", ein als Club getarntes Bordell. Maik saß bereits an der Bar und fasste einem der halbnackten Mädchen an den Po. Zwei weitere gesellten sich zu ihm, tätschelten seine Arme und boten sich dem Polizisten offensichtlich an. Kranich trat näher und wurde sofort von einer feschen Brünetten angesprochen.
"Na, mein H?bscher? Bist du neu hier?", gurrte sie an seinem Ohr und strich ihm dabei mit dem Handrücken über die Wange. Rothe drehte sich um und rief: "Das ist Tom, er ist erst seit ein paar Tagen bei uns. Sei nett zu ihm, Teresa, er hatte ziemlichen Ärger in seiner letzten Dienststelle." Noch bevor Kranich etwas erwidern konnte fühlte er Teresas Hände tiefer wandern. "Oh, du Armer. Dann sollten wir dich aber ganz schnell trösten", flüsterte sie dabei.
"Ähm... Das ist ja wirklich nett von Ihnen, aber...", setzte Tom an, kam jedoch nicht weit. "Gar nicht lieb, dass du mich siezt", schmollte die junge Frau. "Du magst mich wohl nicht?" - "Doch, natürlich?, besänftigte Kranich sie hastig. Aus den Augenwinkeln bemerkte er einen der für diese Clubs typischen Gorillas, welcher ihn bereits argwöhnisch beobachtete. Mit diesen Leuten wollte er sich ganz bestimmt nicht anlegen. Sein Ruf war schon schlecht genug, da musste er nicht gleich in der ersten Woche in eine Auseinandersetzung geraten.
Automatisch legte er seinen Arm um Teresas Schultern, zog sie näher an sich. Verflixt, was war das für eine merkwürdige Situation? Eigentlich hatten sie Mittagspause, wollten diese in einer Gaststätte verbringen. Zumindest hatte er Maik so verstanden, als dieser etwas von einem ebenso guten wie günstigen Essen erwähnte. Und jetzt waren sie stattdessen in einem der Bordelle ihres Bezirks, flirteten mit den Prostituierten und tranken Bier. Rothe jedenfalls.
"Hallo Jungs, kommt ihr?", drang eine samtene Frauenstimme an sein Ohr. Er drehte sich um und sah direkt in ein Paar leuchtendblaue Augen. Die Frau war vielleicht Mitte Dreißig, hatte eine sportliche Figur und kastanienbraunes Haar. Trotzdem sie älter als die anderen Mädchen war strahlte sie eine dermaßen große Attraktivität und Lebenskraft aus, dass es Tom beinahe den Atem verschlug.
Rothe schlenderte an ihm vorbei und zog ihn mit. "Komm, es gibt Mittagessen", meinte er. "Wie bitte?" Kranich glaubte, sich verhört zu haben. "Sei nicht so begriffsstutzig! Charlotte ist die beste Köchin im Umkreis von 5 Kilometern. Also essen wir möglichst häufig hier", erklärte Maik und marschierte mit dem Bierglas in der Hand in einen Nebenraum.
Später, als sie langsam durch den Bezirk fuhren, fragte Tom: "Sag mal... Wie steht eigentlich der Chef zu diesen Ausflügen? Was wir da machen widerspricht doch jeglichen Vorschriften!" Rothe grinste nur breit. "Koch ist ein typischer Beamter, ein echter Sesselfurzer. Der rührt sich nur aus seinem Büro weg, um nach Hause oder aufs Klo zu gehen."
Er klopfte Kranich beruhigend auf die Schulter. "Solange unsere Berichte plausibel sind und wir ihm genügend Verhaftungen liefern interessiert es ihn nicht, was wir hier draußen treiben." Er zeigte auf eine eindeutige Szene in einer schmalen Nebenstrasse. "Ganz besonders freut er sich, wenn wir diesem ausländischen Abschaum ordentlich das Geschäft verderben!"
Tom registrierte, dass zwei offensichtlich vom Balkan stammende Männer einer Prostituierten Geld abnahmen. Dabei gingen sie äußerst grob mit der jungen Frau um. "Lass uns eingreifen", schlug er vor. "Ich verabscheue Männer, die Frauen schlecht behandeln. Egal, welchem Gewerbe sie nachgehen." Maik nickte und parkte den Wagen. "Mit dem größten Vergnügen!"
***
Ende April
"Und, wie gefällt dir deine neue Dienststelle?", fragte Semir vorsichtig. Er saß mit Tom vor Schröders Imbiss. Das erste Mal seit Kranichs Zwangsversetzung. "Na ja... Ich hätte es schlimmer treffen können", entgegnete Tom zurückhaltend. "Zumindest sind die Kollegen ganz okay, der Chef nervt nicht wegen jeder Beule im Dienstwagen..."
Gerkhan schaute ihn erstaunt an. "Seit wann hast du was gegen die Engelhardt?", entfuhr es ihm. Kranich zuckte mit den Schultern. "Sie ging mir zuletzt enorm auf den Zeiger mit ihrem ewigen Gemecker", meinte er. Semir schüttelte ungehalten den Kopf. "Sie hat nur was gesagt, wenn wir Scheiße gebaut oder zu viele Autos geschrottet haben", berichtigte er seinen Freund. Dabei konnte er einen leisen Vorwurf in der Stimme nicht unterdrücken. "Sonst stand sie immer hinter uns; schon vergessen?"
Tom hob eine Augenbraue. "Das hab ich gemerkt, als ich sie gebraucht hätte?, lautete seine trockene Antwort. Gerkhan riss die Augen auf. "Was soll denn das heißen? Sie hat dir den Ar'sch gerettet, du undankbarer Idiot! Ohne die Chefin und ihren Einsatz beim Polizeipräsidenten wärst du vielleicht sogar im Knast gelandet!", fauchte er.
"Ach ja?" Tom knallte seine Bierdose auf den Tisch, dass es spritzte. "Ich will dir mal was sagen, Herr Neunmalklug. Wenn die Engelhardt sich wegen des kaputten Mercedes weniger angestellt hätte wäre es erst gar nicht zu dieser beschissenen Situation gekommen! Dieser miese Wic'hser konnte doch überhaupt nur auf mich losgehen, weil ich kein anständiges Auto unter dem Hintern hatte! Mit dem CLK oder deinem BMW hätte ich seine Rostlaube nämlich so gründlich in die Mauer gerammt, dass ich zuerst aus dem Wagen raus gewesen wäre, um ihm Handschellen anzulegen."
Er schnaubte vor Wut, schüttelte mühsam beherrscht den Kopf. "Aber nein, ich hatte ja nur diesen altersschwachen Passat und musste mich mühsam aus dem Fenster hangeln, weil die Tür verzogen war. Und hatte die Faust dieses Ar'schlochs schon im Gesicht, bevor ich richtig draußen stand."
Seine Augen wurden schmal, als er einen großen Schluck Bier nahm. "In was für einer Welt leben wir, dass man sich als Bulle nicht mal mehr verteidigen darf, ohne bestraft zu werden, Semir? Wozu reißen wir uns tagtäglich den Ar'sch auf, riskieren unser Leben, unsere Gesundheit? Damit die Kriminellen dieser Welt sich auch noch über uns lustig machen, weil sie im Zweifelsfall den pfiffigeren Anwalt bezahlen können?" Er leerte die Dose in einem Zug, warf sie mit Schwung in den nächsten Mülleimer und stand auf. "Sorry, Semir. Aber ich hab die Schnauze voll von dieser Schei'ße. Lass uns ein andermal weiterreden."
Gerkhan erhob sich ebenfalls. Seine Miene war angespannt. "Ich glaube, das ist eine ausgezeichnete Idee, Tom. Melde dich doch einfach, wenn du von deinem Selbstmitleids-Trip zurück bist und man wieder normal mit dir sprechen kann, ja?" Kranich stie? hörbar den Atem aus. "Ach, so ist das. Du bist auf ihrer Seite! Hätte ich mir eigentlich denken können..." Er zuckte verüchtlich mit den Schultern. "Dann mach´s gut ? Ex-Partner. Und mehr Glück mit meinem Nachfolger", wünschte er. Der beißende Hohn in seiner Stimme fuhr Semir bis ins Mark. Und katapultierte ihn im Bruchteil einer Sekunde von 0 auf 180...
"Verdammt, Tom!", brüllte er los. "Merkst du überhaupt noch was? Wie kann man sich innerhalb so kurzer Zeit dermaßen zu seinem Nachteil verändern? Reiß dich gefälligst zusammen und trample nicht auf allem ´rum, was dir was bedeutet hat!" " ?Ach, halt´s Maul, Semir. Lass mich einfach in Ruhe, verstanden?", schnauzte Kranich zurück und ging zu seinem Wagen, ohne Gerkhan noch eines Blickes zu würdigen. Gleich darauf fuhr er mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen davon.
"Was ist denn mit Tom los?", fragte Kai Schröder verblüfft. Semir hob hilflos die Schultern. "Ich weiß es nicht", erwiderte er seufzend. "Ich hoffe nur, dass er sich wieder beruhigt und aus Frust nicht noch mehr Mist baut..."
***