Auf dem Weg zu Semirs Haus war Chris seltsam still. Er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein.
Semir fiel es zunächst nicht auf. Er konzentrierte sich auf den Verkehr und versuchte möglichst schnell zu sich nach Hause zu kommen. Sie waren schon spät dran und er hasste Unpünktlichkeit.
Sie waren fast da, als Semir stichelte: „Na, machst Du Dir jetzt doch Sorgen um Dein Auto?“
„Hmm?“ Verständnislos hob Chris die Augenbrauen.
„Du bist so still. Versteh mich nicht falsch… Du bist sonst auch still, aber heute bist Du extrem still!“
Noch immer schien Chris nicht zu verstehen.
„Dein Auto?… Angst drum?…“ half Semir ihm auf die Sprünge.
Chris schüttelte den Kopf und seufzte: „Das ist es nicht. Im Moment bin ich doch angespannter, als ich es mir zugestehen möchte. Ich will nur endlich, das der Fall Gehlen ins Laufen kommt. Dann geht es mir besser.“
Mit einem spitzbübischen Grinsen fuhr er fort: „Ausserdem,… warum sollte ich mir Sorgen machen? So wie Du im Moment fährst, solltest Du Dir lieber Sorgen um dein Auto machen!“
Semir blieb die Antwort schuldig. Denn in diesem Augenblick fuhren sie bei seinem Haus vor und erstaunt sah er einen weißen Lieferwagen in der Einfahrt stehen.
‚Komisch!’, dachte er bei sich und parkte das Auto auf dem Bürgersteig, ‚Andrea hat gar nicht erzählt, das heute Handwerker kommen.’
„Bin gleich wieder da. Ich hole nur schnell mein Handy.“, sagte Semir und stieg aus.
„Hab ich Zeit für `ne Zigarette?“, rief Chris hinter ihm her.
„Nein! Ich bin in zehn Sekunden wieder draußen!“ Genervt schlug er die Tür zu. Chris’ Qualmerei ging ihm manchmal auf den Keks!
Auf dem Weg zur Haustür suchte er in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel. Plötzlich stutzte er. Was war das für ein Geräusch gewesen?
Da… wieder… als ob etwas zerbrechen würde. Dann gellte ein Schrei durchs Haus. Semir war sich sicher, das es Andrea’s Stimme war!
Geistesgegenwärtig zog er seine Waffe und gab Chris ein Zeichen. Der sprang sofort aus dem Wagen, zog ebenfalls seine Waffe und kam geduckt auf Semir zu.
„Was ist los?“, fragte er besorgt.
Statt einer Antwort ertönte von innen ein weiterer, verzweifelter Schrei.
Chris wartete nicht. Im Laufen rief er Semir leise zu: „Ich gehe nach hinten und schneide ihnen den Weg ab.“ Dann war er auch schon um die Ecke verschwunden.
Semir fluchte: „Verdammt, Chris, gewöhn Dir das langsam mal ab! Wir sind Partner.“
Dann öffnete er leise mit dem Schlüssel die Tür. Mit vorgehaltener Waffe ging er vorsichtig ins Haus und schaute sich nach allen Seiten um.
Aus dem Wohnzimmer konnte er Kampfgeräusche hören. Schnell eilte er den Flur entlang, immer auf Deckung bedacht. An der Ecke blieb er kurz stehen und verschaffte sich einen Überblick.
Das Wohnzimmer war ziemlich verwüstet. Das kleine Tischchen und eine Lampe waren umgestürzt und der Sessel lag auf der Seite. Überall lagen Glasscherben von der zerbrochenen Terrassentür.
Andrea wehrte sich mit Händen und Füßen gegen zwei Kerle. Beide trugen Skimasken. Plötzlich zog einer der beiden eine Pistole aus seinem blauen Overall und hielt sie Andrea vors Gesicht.
„Jetzt reicht es mir!“, brüllte er sie an. „Entweder hältst Du jetzt still oder ich knall Dich ab!“
Schlagartig hörte Andrea auf sich zu wehren. Mit angsterfüllten Augen blickte sie ihre Peiniger an.
„So ist es schon viel besser!“, höhnte der Kerl mit der Waffe. Er raunzte seinen Kumpan an: „Los, fessle sie und dann machen wir, das wir von hier weg kommen.“
In diesem Augenblick kam Semir aus seinem Versteck, richtete seine Waffe auf die Verbrecher und rief: „Gerkhan, Kripo Autobahn. Sie sind verhaftet. Nehmen sie sofort die Waffe runter!“
Für den Bruchteil einer Sekunde waren die beiden Männer erschrocken, doch dann fingen sie sich. Der mit der Waffe drehte sich blitzartig um und schoss auf Semir. Dieser spürte ein scharfes Brennen am rechten Oberarm, bevor er schnell in Deckung ging. Nur am Rande registrierte er einen Streifschuss, doch schnell schob er die Gedanken daran zur Seite.
Verzweifelt dachte er darüber nach, wie er am besten vorgehen könnte. Am liebsten hätte er zurück geschossen, aber er hatte Angst seine Frau zu treffen.
Der andere Mann packte Andrea am Arm und zerrte sie brutal zur Terrassentür hinaus, wobei er sie als menschliches Schutzschild benutzte. Sie schrie vor Schreck laut auf.
In dem Augenblick trat Chris hinter einem Mauervorsprung hervor und drückte dem Mann seine Waffe in den Rücken.
„Eine falsche Bewegung und Du bist tot!“ sagte er gefährlich ruhig. „Und jetzt lass die Frau los!“
Für einige Sekunden erstarrte der Mann, dann löste er den Griff um Andreas Arm. Chris wollte gerade seine Handschellen hervor holten, als plötzlich wieder Schüsse im Haus fielen. Ein Aufschrei war zu hören und jemand schlug mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden.
Diese kurze Ablenkung nutzte der Gangster, packte wieder Andreas Arm und schleuderte sie gegen Chris. Anschließend rannte er los und war schnell um die Ecke verschwunden.
Chris, der reflexartig Andrea auffing, setzte sie vorsichtig auf den Boden.
„Bei Dir alles klar?“ fragte er hastig.
Andrea nickte nur. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammen gepresst und sie war sehr blass im Gesicht.
Aufmunternd drückte Chris kurz ihre Schulter, sprang dann auf und nahm die Verfolgung des Flüchtigen auf.
Doch als er in der Einfahrt ankam, fuhr der weiße Lieferwagen gerade mit quietschenden Reifen um die Ecke. Schnell rannte er auf den Bürgersteig zu Semirs Wagen, setzte sich hinein und startete den Motor. Er legte den Rückwärtsgang ein, wendete das Auto in der Einfahrt und mit aufheulendem Motor raste er hinterher.
Als er an der Straßenkreuzung ankam, blickte er sich suchend nach allen Seiten um. Von dem Lieferwagen war keine Spur mehr zu sehen. Er fuhr ein paar Straßen weiter, musste sich aber bald eingestehen, das er den Wagen verloren hatte.
Wütend schlug Chris mit beiden Händen aufs Lenkrad. Frustriert gab er über Funk eine Suchmeldung raus.
Dann fiel ihm Semir siedend heiß ein. Schnell wendete er und fuhr zum Haus zurück.
Er rannte hinein und rief besorgt: „Semir...?“