Chris träumte unruhig. Immer wieder hörte er, wie verzweifelte Stimmen nach ihm riefen. Er versuchte ihnen zu folgen, aber egal in welche Richtung er sich drehte, stets kam das Rufen anschließend von wo anders weg.
In seinem Traum rannte er gehetzt durch ein Labyrinth... rannte bis ihm die Lungen schmerzten und er um Atem ringend stehen bleiben musste.
Eine andere Stimme ertönte und verhöhnte ihn. Er konnte nicht verstehen was sie sagte, aber das gemeine Lachen, was folgte, klang grauenhaft in seinen Ohren.
Nur zu gut kannte er dieses Lachen,... es weckte eine schmerzhafte Erinnerung in ihm.
Er nahm all seine Kraft zusammen, rannte weiter... lief um Ecken,... versuchte sich zu orientieren,... rannte noch weiter,... stolperte und fing sich im weiterlaufen auf,... rannte immer weiter,... er meinte zu spüren, wie sich seine Muskeln in den Oberschenkeln verkrampften und nach Erholung schrien,... doch er ignorierte den Schmerz und lief weiter,... er wollte nicht aufgeben...
In seinem Traum wurde der Gang plötzlich breiter und er betrat einen großen, dunklen Raum. Er konnte schemenhafte Gestalten am anderen Ende ausmachen, aber niemanden erkennen.
Wieder erschallten die verzweifelten Rufe nach ihm... sie waren ganz nah... zum Greifen nah.
Seinen Blick von den Schattengestalten abwendend blickte er sich suchend um.
Da!...
In einer Ecke lagen vier vertraute Personen. Ihre Gesichter konnte er nicht sehen, aber sie mussten es sein. Seine Suche war erfolgreich und erleichtert atmete er aus.
Als er jedoch einen Schritt auf sie zutun wollte, löste sich einer der Schatten am Ende des Raumes und kam auf ihn zu.
Er erkannte eine Waffe, die auf ihn gerichtet wurde und wollte seine eigene ziehen, doch er griff ins Leere. Panisch suchte er danach... ohne Erfolg.
Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er erkannte, das es seine Waffe war, die auf ihn gerichtete war und wer die Waffe hielt.
„Du?“ stieß er tonlos hervor...
Chris schreckte auf. Langsam hob er den Kopf und schüttelte ihn leicht.
Er versuchte sich an seinen Traum zu erinnern, bekam aber die schemenhaften Bilder nicht zu fassen. Alles war wie in dicke Watte gehüllt.
Er meinte noch den Schreck in seinen Gliedern zu spüren,... aber warum hatte er sich überhaupt erschreckt?
Noch einmal schüttelte seinen Kopf, in den dem Versuch ihn frei zu bekommen.
Langsam ließ das ungute Gefühl von ihm ab. Sein Rücken schmerzte und er richtete sich vorsichtig auf. Er fühlte sich wie gerädert.
Mit einem unterdrückten Gähnen reckte er seine schmerzhaften Glieder. Sehr erholsam war sein Schlaf nicht gewesen.
Dann schaute er sich orientierungslos um. Wieso war er überhaupt im Büro eingeschlafen? Das war ihm ja noch nie passiert!
Er sah auf die Uhr. Sie zeigte 6.08 Uhr an.
Als sein Blick auf den Schreibtisch fiel, wurde ihm gleich bewusst, das er bei der Suche nach Hinweisen zum Verbleib seiner Schwester eingeschlafen war. Augenblicklich überkam ihn ein schlechtes Gewissen.
‚Wie konnte mir das nur passieren!’ schimpfte er in Gedanken mit sich selber.
Erschöpft rieb er sich die Augen und versuchte so, die Müdigkeit zu vertreiben. Doch viel half es nicht.
Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und murmelte: „Ich könnte einen starken Kaffee gebrauchen!“
„Euer Wunsch ist mir Befehl, mein holder Retter!“
Ohne das er es bemerkt hatte, war Andrea in den Raum getreten und stellte ihm eine Tasse frisch gebrühten Kaffee hin. Dabei lächelte sie ihm aufmunternd zu.
Als sie bemerkte, das Chris erschrocken zusammen zuckte, fügte sie schnell hinzu: „Entschuldige, Chris, ich wollte Dich nicht erschrecken. Aber ich habe gerade gesehen, das Du wach geworden bist. Da dachte ich mir, Du könntest einen frischen Kaffee gebrauchen.“
„Andrea,… Du bist ein Engel!“ Dankbar nahm er die Tasse zur Hand, hob sie hoch und atmete das würzige Aroma tief ein. Sofort merkte er, wie seine Lebensgeister zu neuem Leben erwachten.
Nach einem vorsichtigen Schluck von dem heißen Getränk fühlte er sich bereits tausend Mal besser. Wohlig schloss er einen Moment die Augen.
Er spürte, das Andrea ihn beobachtete, und als er die Augen öffnete, schaute sie ihn tatsächlich mit besorgter Miene an.
„Wie geht es Dir?“ fragte sie mitfühlend.
Er tat einen tiefen Seufzer. „Was willst Du hören?… Eine ehrliche Antwort oder das, was ich gleich der Engelhardt sagen werde, wenn sie mich fragt.“
Dabei warf er einen Blick in die Richtung der Büroräume und stellte fest, das keiner zu sehen war.
Mit einem, wie er hoffte, echtem Staunen in der Stimme fragte er: „Wo sind die denn alle?“
Andrea zog missbilligend die Stirn in Falten. „Chris, jetzt lenk nicht ab! Du weißt genau, das gerade Schichtwechsel und somit Teambesprechung ist.“
Erschrocken sprang Chris auf. „Warum sagt mir keiner Bescheid? Ich muss doch auch daran teilnehmen!“
Andrea drückte ihn zurück in seinen Stuhl, was ihr recht leicht gelang, da Chris aufgrund seiner Erschöpfung kaum die Kraft fand sich zur Wehr zu setzen.
Sie zog sich einen Stuhl neben seinen Tisch und setzte sich so, das sie sich anschauen konnten.
Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck hakte sie nach: „Und jetzt möchte ich eine ehrliche Antwort von Dir!“
Chris drehte ihr sein Gesicht zu und ließ einen Moment seine Maske fallen. Tränen stiegen ihm in die Augen und sein ganzer Körper sackte in sich zusammen.
„Ich… ich fühl mich grauenvoll!… Ich kann einfach nicht mehr… und ich weiß nicht, wie ich die nächsten Stunden und besonders den morgigen Tag überstehen soll!“
Eine Träne rollte leise an seiner Wange herunter und verfing sich in den Bartstoppeln. Hastig wandte er sich ab, wischte sie sich mit einer wütenden Handbewegung weg und sah aus dem Fenster.
Er spürte, wie Andrea ihre Hand auf seinen Arm legte und ihn sanft drückte. Sie sprach kein Wort, sondern bedeutete ihm nur, das er nicht allein war.
Die Berührung weckte eine Erinnerung in ihm: Wie oft hatte seine Schwester das mit ihm gemacht!
Besonders damals, als er während seiner Genesung oft den Mut verlor und aufgeben wollte.
Wie oft hatte sie ihm mit dieser kleinen Geste gezeigt: Du bist nicht allein! Gib nicht auf!
‚Ich werde nicht aufgeben!... Und ich werde Dich finden!’ versprach er seiner Schwester in Gedanken...