Ein kaum merkbarer Lufthauch strich über Chris’ Nacken. Sanft wirbelnd glitt er an seinem Rücken entlang und schickte einen leichten, aber nicht unangenehmen Schauer durch seinen Körper. Langsam hob Chris den Kopf und sah Gaby mit tränenverschleierten Augen hoffnungsvoll an.
Hatte sie sich bewegt…? Hatte er sie vielleicht geweckt…?
Hastig blinzelte er die Tränen weg und erkannte teils enttäuscht, teils erleichtert, das sie noch immer friedlich schlief.
Während er sich aufrichtete, blickte er sich irritiert um. Doch er konnte die Ursache für den Luftzug nicht entdecken.
Mit beiden Händen wischte Chris sich die Tränen aus dem Gesicht und betrachtete Gaby eine Weile. Schließlich lehnte er sich seufzend zurück und warf einen nachdenklichen Blick an die Decke. Auf der einen Seite fühlte er sich glücklich, erlöst, erleichtert und befreit,… aber auf der anderen Seite auch traurig, allein, einsam und leer!
Er spürte, wie ihm in diesem Moment etwas fehlte,…
etwas, was er gerade jetzt bräuchte,…
etwas, was für ihn wichtig wäre,…
etwas, was er zwar benennen konnte, aber nicht wollte,…
etwas, wozu ihm sein Stolz im Weg stand…
Mit einem widerwilligen Aufatmen stand Chris auf und ging zu dem großen Fenster. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mit verschlossener Miene hinaus.
Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten und in ein paar Minuten würde es vollkommen dunkel sein. Die Sonne war hinter den Wolken bereits am Horizont untergegangen und ihre letzten Strahlen verliehen dem Himmel eine schwache, rötliche Färbung. Es hatte etwas aufgeklart und nur noch vereinzelte dunkle Wolken zogen am Himmel entlang. Die Bäume der Umgebung zeichneten sich schwarz gegen den Abendhimmel ab und die wenigen, verbliebenen Blätter, die sich mit letzte Kraft an den dürren Ästen klammerten, wiegten sich sanft im Wind.
Vereinzelte Fenster in den umliegenden Häusern waren beleuchtet und an einer Ampel sprang das Signal von Grün auf Rot. An der Straße, die am Krankenhaus vorbeiführte, waren die Laternen aufgeflammt und die Lichtpunkte reihten sich aneinander wie die Perlen einer Kette. Mit den Augen folgte Chris so dem Lauf der Straße, bis sie hinter einem Hochhaus verschwand.
Sein Blick wurde auf sein Spiegelbild gelenkt, welches sich fahl in der Scheibe reflektierte. Müde Augen, die in tiefen, dunklen Höhlen lagen, schauten ihn an. Sein Gesicht wirkte grau und in seiner Miene sah man deutlich die Strapazen der letzten 32 Stunden.
Ausdruckslos starrte er sich an…
War das wirklich er…?
Sah er wirklich so ausgelaugt,…
so ausgebrannt,…
so ausgemergelt,…
so alt aus…?
Er fühlte sich wie ein sturmgeplagter Baum, der jeden Augenblick entwurzelt werden konnte,…
wie ein vom Meer unterspülter Felsen, der drohte bei der nächsten Welle weg zu brechen…
wie ein verletztes Tier, welches ängstlich und verzweifelt nach Schutz suchte,…
wie jemand, der durch eine Wüste irrte und die Orientierung verloren hatte…
Leise, aber vehement meldete sich das Gefühl von Einsamkeit in ihm und ein abgrundtiefes, gequältes Seufzen entwich seiner Kehle...
Wie gern würde er jetzt mit jemandem reden…!
„Herr Ritter?“
Eine vorsichtige Stimme riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Hastig blinzelnd holte er sich in das Hier und Jetzt und mit einem tiefen Atemzug schaute er über die Schulter.
In der Tür stand die Stationsschwester und richtete ihm die Nachricht von Semir aus. Mit einem Nicken bedankte sich Chris. Er trat zurück ans Bett, beugte sich vorsichtig zu Gaby hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Während er ihre Haare streichelte, murmelte er: „Schlaf ruhig weiter. Ich schaue später noch einmal rein. Vielleicht bringe ich auch die Kinder mit. Wie wäre das?“ Dabei überflog ein zärtliches Lächeln sein Gesicht. Zum Abschied drückte er kurz ihre Hand und entfernte sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer…