Auf speziellen Wunsch von Elli und Steffi, hier ein neues Häppchen von mir.
Tom betrachtete gedankenverloren den Infusionsschlauch, der seinem Körper die dringend benötigten Nährstoffe zuführte. Er war wieder allein. Die junge rothaarige Schwester, die ihm bis eben ein wenig Gesellschaft geleistet hatte, war zu einem Notfall gerufen worden. ‚Und brav aufessen!‘, hatte sie im Rausgehen noch mit Blick auf den Infusionsbeutel gesagt. Das Mädchen erinnerte ihr irgendwie an Semir. Nicht nur, weil sie noch kleiner war als sein Ex-Partner, auch von ihrer Art. Sie war eine der Wenigen in der letzten Zeit, die ihn wie einen Menschen behandelt hatte, und nicht wie ein furchtbares Monster, obwohl sie seine Geschichte doch kennen musste. Und sie hatte sich von seiner missmutigen Stimmung in keiner Weise beeindrucken lassen. Nach als sie gegangen war, hatte ein keckes Grinsen ihr sommersprossiges Gesicht geziert.
Erschöpft sankt Tom zurück in die Kissen. Seine Gedanken gingen die ganze Zeit in Kreis. Hier im Krankenhaus ließ es sich einigermaßen aushalten. Die unvergitterten Fenster machten ihn für den Moment vergessen, dass er eigentlich ein Gefangener war. Auch die Ärztin und die Schwestern schienen sich nicht wirklich dafür zu interessieren. Für sie war er hauptsächlich ein Patient, den es galt wieder gesund zu pflegen. Aber das würde nicht so bleiben. Sobald es ihm nur ein wenig besser ging, würde die Staatsanwältin seine Rückverlegung ins Haftkrankenhaus veranlassen. Dann konnte auch Semir nicht mehr bei ihm sein. Dann waren wieder Gitter vor dem Fenster, die Schwestern dort würden sich ihm nur in Begleitung eines Wärters nähern. Jeder würde ihn wieder spüren lassen, dass man ihn für eine gefährliche Bestie hielt. Plötzlich wurden Stimmen vor seinem Zimmer laut und rissen ihn aus seinen Gedanken.
„… nein, das kann ich nicht verantworten!“, war eine aufgebrachte Stimme zu vernehmen, die sehr nach der Ärztin klang.
„Der Mann ist ein Strafgefangener! Was mit ihn geschieht liegt unterliegt nicht ihre Entscheidung!“, erwiderte eine unangenehme hohe Frauenstimme. Sie kam Tom bekannt vor, doch er vermochte sie für den Moment nicht einzuordnen.
„Er ist mein Patient! In seinem, Zustand ist er weder transport- noch haftfähig! hielt die Ärztin dagegen.
„Die Entscheidung überlassen Sie wohl besser mir!“, keifte die andere Frau.
„Diese Entscheidung überlasse ich nur medizinischem Fachpersonal! Wenn sie ihn mitnehmen wollen, verlange ich zuvor eine Begutachtung durch einen Amtsarzt.“
Panik erfasste Tom. Sie waren schon da! Sie wollten ihn holen. Jetzt sofort wollten sie ihn mitnehmen und ihn zurück in seinen persönlichen Alptraum bringen. Die Vorstellung, wieder in der engen Zelle zu hocken, schnürte ihm die Luft ab. Sein ganzer Körper bebte vor Angst. Zitternd richtete er sich auf und strampelte sich aus der Decke frei. Er musste weg von hier. Nur schnell weg. Fahrig versuchte er die Kanüle aus seinem Handrücken zu ziehen. Sei klemmte, ließ sich nicht lösen. Er zerrte heftiger. Ein durchdringendes Piepsen erfüllte den Raum. Der Alarm. Sie lösten Alarm aus! Gleich würden sie da sein. Mit ihren Waffen. Mit Handschellen. Sie würden ihn zu Boden werfen. Nach ihm schlagen. Ihn treten. Er musste weg. Doch er bekam seine Hand nicht frei. Hektisch zerrte er an den Fesseln. Riss mit aller Kraft. Er spürte einen scharfen Schmerz in der Hand, dann war sie frei. Wankend kam er auf die Beine. Wohin nur? Wohin? Vor der Tür waren seine Feinde. Sie wollten ihn ergreifen. Das Fenster! Er musste aus dem Fenster. Er musste springen. Dann konnten sie ihm nicht folgen. Er stürzte zum Fenster hinüber. Hinter ihm ging die Tür. Er hörte, jemanden seinen Namen rufen. Sie kamen! Sie wollten ihn ergreifen. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Verzweifelt warf er sich dagegen. Wollte es einschlagen. Wollte mit aller Gewalt hindurch in Freie. Doch die Scheibe gab nicht nach. Er sank zu Boden, krümmte sich zusammen. Tränen strömten aus seinen Augen. Hände griffen nach, ihm, zerrten ihn vom Boden hoch. Sie hatten ihn ergriffen. Jetzt gab es keinen Ausweg mehr. Panisch schlug er um sich. Nein! Sie sollten ihn nicht bekommen. Er wollte nicht zurück in dieses Loch, diese Hölle! Doch er hatte keine Chance. Immer mehr Hände griffen nach ihm, drückten ihn fest auf das Bett. Er spürte einen Stich in den linken Arm, dann erlahmten seine Kräfte. Es wurde schwarz um ihn.
„Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!“, fauchte Sandra Schuster, die Frau von der Staatsanwaltschaft an. „Ich sagte doch, er ist noch sehr labil!“
„Ich wusste nicht … entschuldigen Sie … mir war …“, stammelte die Frau, die sich als Claudia Schrankmann vorgestellt hatte verlegen. Sandra schnaubte nur verärgert.
„Ich sagte bereits: Ohne Begutachtung durch einen Psychologen werde ich Herrn Kranich ganz sicher nicht aus meiner Obhut entlassen! Das ist mein letztes Wort!“
„Aber …!“, setzte die Frau wieder an.
„Nein, kein aber! Seien Sie froh, dass ich keine Beschwerde gegen Sie einlege und jetzt gehen sie!“, fuhr Sandra die Frau an.
Für einen Moment sah es so aus, als wollte diese Frau Schrankmann doch noch widersprechen, doch ein düsterer Blick von Sandras Seite ließ sie verstummen, bevor sie überhaupt den Mund richtig geöffnet hatte. Sie nickte nur knapp und verließ die Station.
Sandra schaute ihr einen Augenblick nach, dann wandte sie sich ab. Nachdenklich betrachtete sie ihren Patienten durch die Scheibe. Offenbar hatte Kranich den Streit zwischen ihr und der Staatsanwältin mitbekommen und war daraufhin in Panik ausgebrochen. Er hatte sich sogar die Kanüle aus der Hand gerissen. Sie musste ihm ein Beruhigungsmittel spritzen, um ihn überhaupt versorgen zu können. Jetzt lag er wieder in seinem Bett und schlief, die rechte Hand verbunden, eine neue Kanüle in der linken. Sie hatte ja gewusst, das Kranich sehr labil war, aber dass er solch ein Panik vor dem Gefängnis entwickelt hatte, hatte selbst sie nicht gedacht.
Ich hoffe, es gefällt.