„Hey, was soll das?! Der Bulle lebt ja noch!“ zürnte Sven. „Kannst du nicht besser zielen, muss ich es denn wirklich selbst machen?!“ schrie der Boss weiter und ließ Semir leicht aufschrecken. Semir schüttelte sich, als würde er somit seine Gedanken abwerfen können. Dann zwang er sich zum Nachdenken. Er musste sich zusammenreißen, er musste jetzt stark sein. Und, er durfte sich vor allem nichts anmerken lassen und musste überzeugend klingen. „Es war Absicht.“ antwortete Semir knapp mit fester Stimme und machte eine kurze Pause um die Worte wirken zu lassen. Sven sah ihn irritiert an. „Ich habe ihn absichtlich nicht tödlich getroffen. Jemand wie er, ein Verräter, verdient einen qualvollen Tod. Er soll bereuen was er getan hat, so ist es doch viel amüsanter. Er wird langsam verbluten.“ erklärte Semir und grinste beim letzten Satz gemein. Er versuchte seiner Stimme Festigkeit zu verleihen, doch sein Inneres sah ganz anders aus. Es fiel ihm schwer die Worte auszusprechen, aber er musste da jetzt irgendwie durch. Er hoffte, nein, er flehte, dass Sven damit einverstanden sein würde und Tom in Ruhe lassen würde. Wenn nicht, dann wusste er auch nicht mehr weiter. Dann schwanden Toms Chancen hier jemals wieder lebend raus zu kommen gegen Null.
Angespannt wartete er darauf, was Sven dazu sagen würde. Dieser schien kurz nachzudenken, doch dann wurde sein Grinsen immer größer. „Anscheinend habe ich mich in dir getäuscht. Wir lassen den Bullen einfach hier liegen und dahinvegetieren, während wir uns auf den Weg zum Rastplatz machen. Das ist eine sehr gute Idee, du fängst langsam an, so wie wir zu denken. Das gefällt mir!“ lobte Sven. Er war mit dem Vorschlag einverstanden. Erleichterung stieg in Semir auf. Sobald die Bande und er sich auf den Weg zum Rastplatz machen würden, würde er versuchen der Chefin eine Nachricht zukommen zu lassen, damit Tom gefunden und gerettet werden konnte. Er hoffte nur, dass es dann nicht zu spät sein würde.
„Fessel ihn!“ hörte er plötzlich Sven sagen. „Was?“ entfuhr es Semir. „Er soll nicht entkommen können, deswegen sollst du ihm die Hände hinter dem Rücken zusammenbinden!“ wiederholte Sven bestimmt und warf ihm Handschellen zu. Semir sah ihn verständnislos an. „Schauen Sie sich ihn doch mal an, der ist erledigt, der kann nicht mehr flüchten. Das ist unnötig.“ weigerte er sich den Befehl zu befolgen. „Willst du mir etwa schon wieder widersprechen? Du sollst ihn fesseln!“ zischte Sven gefährlich leise und sah Semir mit einem Blick an, der keinen Widerspruch duldete. Semir zögerte, er wollte Tom nicht auch noch die unbequemen Handschellen anlegen. Außerdem wusste er, dass Tom sich seinen rechten Arm verletzt hatte. Seitdem sein Partner zu Boden gesunken war, hatte er den Arm jedenfalls nicht mehr bewegt. Er wollte ihm zumindest diese Schmerzen ersparen.
Anna sah Philip an. „Erinnerst du dich an die zwei Polizisten, die sich als verdeckte Ermittler in eure Bande einschleusen wollten?“ fragte sie den Burschen. „Ja, sicher.“ antwortete Philip. „Es könnte sein, dass sie in großen Schwierigkeiten stecken.“ meinte Anna beunruhigt. „Was ist passiert?“ wollte er wissen. „Das wissen wir nicht so genau, aber wir brauchen deine Hilfe. Wir müssen sie unbedingt finden.“ „Aber wie denn? Wie kann ich Ihnen helfen? Ich weiß doch auch nicht, wo der Boss all seine Verstecke hat. Es wird außerdem ständig gewechselt. Wir haben uns nie lange an einem Ort herumgetrieben und alte Verstecke haben wir nie wieder betreten.“ erklärte er entschuldigend. „Bitte, denk nach! Vielleicht fällt dir etwas ein.“ bat sie den jungen Mann. „Philip, wenn du uns jetzt hilfst, dann werden wir dir auch helfen.“ erklärte sie. Philip überlegte kurz. „Na ja, in der Kollstraße, dort wo ihr Norbert gefunden habt, vielleicht gibt es da ein Versteck. Ich glaube, es wurde einmal etwas von der U-Bahn dort erwähnt.“ Anna nickte. „Ja, das stimmt. In dem U-Bahn-Tunnel gab es ein Versteck, aber jetzt ist dort niemand mehr.“ Philip seufzte. „Ich sagte doch, dass die ständig ihre Unterkunft wechseln. Mein Wissen wird ihnen nicht mehr helfen können, ich bin ja jetzt nicht mehr dabei.“ Anna ignorierte seine Worte und stellte stattdessen die nächste Frage. „Sagt dir Zeilingerstraße 10 etwas?“ Philip schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir Leid, nie gehört.“ gab er zur Antwort. „Dort stand ein Haus, in dem sich die Bande auch einmal versteckt hatte, aber es steht mittlerweile auch leer.“ Anna machte eine kurze Pause, dann sah die den Burschen fest an. „Philip, du warst doch eine Zeit lang bei dieser Bande. Du hast doch sicher Gespräche belauscht. Wurde da nicht irgendwann einmal etwas erwähnt? Hast du nicht zufällig einmal eine Adresse aufgeschnappt? Bitte, es ist wirklich wichtig, vielleicht geht es sogar um Leben und Tod. Bitte erinnere dich, jede Kleinigkeit könnte uns weiterhelfen. Bitte!“ bat Anna. Philip nickte und lehnte sich im Stuhl zurück. Er schloss die Augen und versuchte sich die Gespräche in Erinnerung zu rufen, die er mitbekommen hatte.