Schuldgefühle
Prolog
Köln September 1997
Der Wind wehte sehr stark und langsam begannen, einige Regentropfen zu fallen. Es war stürmisches Wetter in Köln und die Leute hatten sich alle in ihre Häuser verzogen. Alle Leute? Nein! Ein 13-jähriger Junge befand sich im Kölner Grossfriedhof und stand vor einem gerade erst zugeschütteten Grab. Die Kränze wirkten lächerlich und zu bunt, für einen solch traurigen Anlass. In seiner Hand eine Rose, deren Dornen in seine Finger stachen. Doch er ignorierte den Schmerz und sah durch den beinah undurchdringlichen Schleier, der die Tränen in seinen Augen gebildet hatte. Wie sollte er nun alleine auskommen? Die Aussicht dass sich seine Mutter um ihn kümmern konnte, war gleich null. Sie würde arbeiten müssen, um ihn bei sich behalten und unterhalten zu können. Allein der Gedanke liess ihn wieder in einen Weinkrampf verfallen. Er beugte sich über das Grab, bettete die Rose vor den Grabstein und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Seine Schultern zuckte immer wieder auf und ab.
Er wusste nicht, dass hinter ihm sich ein junger Mann befand. Sein Haar war länger und sein Gesicht wirkte beinahe ein wenig kindlich. Er war nicht gross. Das war er noch nie. Und er schämte sich nicht dafür. Doch er schämte sich, dem Jungen nicht geholfen haben zu können. Er und sein Partner kamen zu spät. Das erste Mal, dass er richtig versagte. Das Gefühl im Bauch war unerträglich. Er musste zu ihm! Er musste sich entschuldigen. „Bist du sicher, dass du das tun willst Semir?“ fragte eine Männerstimme hinter ihm und er drehte sich um. Ein Mann mit Dreitagebart, kurzem Haar und kantigem Gesicht blickte ihn an. „Du bist es André!“ keuchte Semir erschrocken und hielt sich symbolisch die Hand auf die Brust. „Er ist immerhin noch ein Kind!“ Andrés Gesicht war beinah vorwurfsvoll. Sein junger Partner sollte sich verdammt noch mal nicht solche Sorgen machen! „Ich gehe zu ihm André. Koste, was es wolle!“
„Lukas?“ Der Junge drehte sich um und sah das Gesicht des Kommissars, den er vor kurzem erst kennengelernt hatte. „Herr Gerkhan“, schluchzte er hervor und versuchte, mit dem Handrücken, die Tränen fortzuwischen. Doch der Kommissar nahm sanft seine Hand und schüttelte mit dem Kopf. „Du musst dich nicht dafür schämen“, flüsterte er und strich einmal über die Hand. „Lukas…es tut mir so leid…“ Der Junge schüttelte mit dem Kopf. „Sie haben alles für ihn getan“, begann er mit Vernunft in der Stimme und versuchte zu lächeln, „sie haben immerhin meine Mutter gerettet! Ich bin immerhin nicht alleine!“ Semirs Kloss im Hals verstärkte sich bei diesem Satz nur, als dass er sich verbesserte. „Lukas…“ Der Junge schüttelte mit dem Kopf. „Versprechen Sie mir nur eines Herr Gerkhan…besuchen Sie mich jedes Jahr mindestens einmal. Und zwar immer am 13. Februar. Das ist der Geburtstag meines Vaters. Bitte besuchen Sie mich immer und sorgen Sie dafür, dass dieser Tag für mich beinahe schöner ist, als jeder Andere. Ich habe Sie wirklich gern gewonnen.“ Semir blickte nach hinten und sah André, an einem Baum lehnend. „Willst du das wirklich?“ fragte er und der Junge nickte. „Dann soll es so sein. Ich und André werden dich immer am 13. Februar besuchen!“ Doch zu diesem Zeitpunkt wusste Semir nicht, dass André nur noch für zwei Februare sein Begleiter sein wird.