XX. Annelie und Julia
Julia hatte allmählich ihren Kampf aufgegeben. Sie würde hier zusammen mit ihrem Kind sterben, dass wurde ihr allmählich klar. Jegliche Versuche, sich zu befreien, waren gescheitert. Die Tränen kullerten dem verdreckten Gesicht entlang und die Schluchzer verfingen sich im Knebel. Die Zweifel wurden immer grösser und das Vertrauen in ihr Bruder brach. Nicht dass sie nicht an ihn glaubte, aber die Angst und die Verzweiflung begannen die optimistischen Gefühle zu überschlagen. Sie lehnte sich an die eiskalte Betonmauer und glitt langsam zu Boden. Sie liess ihrer Verzweiflung freien Lauf und weinte lauthals. Die Angst um ihr Baby wurde immer stärker und die Furcht vor dem Tod immer grösser. Sie wusste, dass wenn sie sich nicht beruhigen würde, sie ihrem Kind nur schaden zufügte, doch sie konnte einfach nicht. Sie zitterte am ganzen Leibe. Bitte lieber Gott, dachte sie, bitte hilf mir! Sie schloss die Augen und versuchte, der grauenhaften Wirklichkeit zu entfliehen.
Annelie fuhr dem Wagen hinterher und sah, dass dieser in einem Fabrikenviertel anhielt. Sie hielt ein paar Meter weiter hinten und stellte ihr Motorrad in einem sicheren Versteck ab. Schliesslich musste sie das Ding wieder zurückgeben, hatte sie es doch schon unter einem falschen Vorwand in Beschlag genommen.
Flink und geschickt, schlich sie dem Verdächtigen hinterher und klebte sich an ihn. Der Mann ging auf eines der leeren Lagerhäuser zu, sah sich kurz um und ging hinein. Annelie schaffte es, knapp durch den Türspalt zu schlüpfen, ohne dabei gesehen zu werden. Tja, dass sie ein paar Kilo abgenommen hatte um Ben zu gefallen, zeigte auch andere, positive Seiten. "Wie geht es ihr?", hörte sie jemanden fragen. "Nicht so gut, sie scheint wirklich verzweifelt. Aber wir brauchen die Kohle!" Annelie schlich sich näher heran. Konnte die Menschen aber nicht sehen. "Nun ja, ich muss los, die Förster hat eingestimmt. Die Übergabe findet statt. Du bleibst hier und bewachst das Mädchen!" "Alles klar!" Annelie hörte Schritte auf sich zukommen und versteckte sich. Sie sah eine Frau an sich vorbeigehen. Sie ging auf die Tür zu und verschwand. Als Annelie sich wieder dem Mann widmete sah sie, wie dieser sich an einen Tisch setzte und eine Zigarette in den Mund steckte. Verzweifelt schien er nach einem Feuerzeug zu suchen. Da sah Annelie ihre Chance. Sie zückte ihr Feuerzeug hervor und schlich sich an den Kerl ran. Mit einer leichten Geste hielt sie das Feuer hin. "Oh danke", hörte sie den Mann sagen der zu schalten schien und sich umdrehte. Annelie holte aus und traf mit der gestreckten Hand den Mann direkt in den Nacken.
Mit einem Ächzen ging dieser zu Boden und rührte sich nicht mehr. Annelie durchsuchte seine Taschen und fand einen Schlüssel. Sie zog ihn heraus und ging zur Türe. Mit einer Bewegung steckte sie den Schlüssel und öffnete die Türe. Sie sah eine zierliche Gestalt am Boden die zitterte und sich langsam aufrichtete. Annelie sah ihn die verweinten Augen Julias. Sofort ging sie auf sie zu und erlöste ihre Vielleicht-Schwägerin vom Knebel. "Annelie, du?", keuchte Julia hervor und die Deutschschweizerin lächelte. "Ich weiss du wärst mit deinem Bruder zufriedener gewesen, aber nun musst du mit mir vorlieb nehmen!" Annelie löste die Fesseln und Julia glitt in ihre Arme. Sie weinte bitterlich. Annelie liess sie gewähren. "Geht's wieder?", fragte sie nach einer Weile und Julia nickte. Langsam stand sie auf und liess sich von Annelie stützen. "Lass uns von hier verschwinden, bevor mir dein Bruder den Kopf abreisst!"