„Tut mir Leid.“, meinte Semir. Der Mann musste sich erst einmal fangen, verarbeiten, was er gerade unglaubliches gehört hatte. Sein Sohn sollte sexuell missbraucht worden sein? „Das kann nicht sein.“, stammelte er und hielt seine Frau noch fester an sich, aber nur, um nicht selbst in den Knien nachzugeben. „Ist das ... Ich meine, könnte sich deshalb mein Sohn...“ „Wir nehmen es an.“, erwiderte der Deutschtürke. Ben entfernte sich inzwischen und suchte das Zimmer des Jungen auf. Er hoffte, dort etwas mehr über das Umfeld des Jungen zu erfahren. Mit einem Blick gab er dies Semir zu verstehen und dieser nickte ihm nur zustimmend zu. Die Neukirchs ließen sich auf die Couch nieder. „Haben sie in den letzten Wochen eine Veränderung an Daniel festgestellt? Irgendwas, was anders an seinem Verhalten war?“, wollte der Hauptkommissar wissen.
Wie in Trance schüttelte Doris Neukirch den Kopf. „Wir sind beide berufstätig, Herr Gerkhan. Mein Mann in seinem Verlag und ich in meiner Apotheke. Wir kommen meist sehr spät nach Hause.“ „Das Abendessen war das einzige Ritual, wo die ganze Familie am Tisch saß.“, fügte Hans Neukirch hinzu und starrte wieder auf die Fotos seines verstorbenen Sohnes. „Ist ihnen da nie etwas aufgefallen?“ „Nun, Daniel war wirklich in letzter Zeit ziemlich still, aber wir dachten, es lag daran, dass er sich von seiner Freundin getrennt hatte. Das war seine erste große Liebe.“, schluchzte Doris. „Haben sie mit ihrem Sohn darüber gesprochen?“, fragte Semir. „Ich habe es versucht.“, erwiderte Hans. „Doch immer hat er nur abgeblockt. Es schien, als wolle er alleine damit fertig werden. Hätte ich doch nur weiter gebohrt.“, warf sich der Vater vor und schlug mit der Faust gegen seine Stirn.
Ben sah sich inzwischen das Zimmer des Jungen an. Es war ein Zimmer eines knapp Vierzehnjährigen: Einige Modellautos standen in einer Vitrine, ein Modell des Orient-Expresses zierte ein Wandregal, verschiedene Poster der angesagtesten Musikerinnen und Rockbands an der Wand und über dem Bett, in der Ecke eine Gitarre und ein, was Ben zuerst verwunderte, ein Florett, ein Fechtdegen.
Der junge Ermittler setzte sich in den Bürostuhl am Schreibtisch, der mit allen möglichen Büchern und vollgeschmierten Zetteln zugekramt war und suchte in dem Chaos, bei ihm sah es ja manches Mal nicht viel besser aus, einige Anhaltspunkte, um sich ein Bild von Daniel machen zu können. Unter dem Berg von Papieren kam die Tastatur des Computers zum Vorschein, doch nichts interessantes war bei den Zetteln zu finden. Meist waren es Hausaufgaben, Aufsätze oder Notizen. Doch Ben ließ sich nicht beirren und suchte weiter. Es musste sich doch was finden lassen.
Jetzt waren die Regale und Schränke dran. Alles voll mit Comicheften, Musikzeitschriften, Computermagazinen und Schulheftern. Dennoch fand Ben etwas, was seine Aufmerksamkeit erregte. Einige Briefe, die meisten geöffnet und gelesen, ohne Unterschrift. Eindeutig waren diese Briefe von Mädchenhand geschrieben worden. Sofort fiel ihm der Brief wieder ein, den er heute morgen im Briefkasten hatte. Zwar waren sie nicht von derselben Person, die Handschriften waren viel zu unterschiedlich, aber was, wenn hier eine unerfüllte Liebe im Spiel war? Eine Liebe, die aufgrund von Daniels Zurückgezogenheit durch den sexuellen Missbrauch eine Teilschuld am Selbstmord des Jungen hatte. Ben steckte die Briefe auf jeden Fall mit ein. Die Klassenlehrerin würde die Handschrift sicherlich kennen. Ben verließ das Zimmer wieder und ging nach vorne zu Semir, der mit der Befragung der Eltern soweit auch fertig war. Sie verabschiedeten sich und gingen zu ihrem Auto zurück.
...
ein paar Feeds von euch wären schön auch bei Ellis Story