Semir betrat langsam Bens Zimmer. Er nahm sich den Stuhl von der Seite und setzte sich neben Bens Bett. Er war wirklich sehr blass. Das Krankenhaushemd und die vielen Verbände und Schläuche ließen ihn hager und eingefallen wirken. Auch seine rot unterlaufenen Augen ließen von den letzten Stunden zeugen. Semir nahm Bens Hand, um ihm so zu zeigen, dass er für ihn da war. Er machte sich nochmals Gedanken über die Worte des Arztes. Was würde ihn erwarten, wenn Ben aufwacht? An was konnte er sich erinnern? Noch wichtiger aber, an was konnte er sich nicht erinnern? Die Täter waren immer noch auf freiem Fuß. Konnte Ben ihm helfen, sie eindeutig zu identifizieren und zu schnappen? Oder war Semir nur auf Ninas Aussage und Hilfe angewiesen? Wie wird Ben reagieren, wenn er erfahren sollte, dass Nina seinetwegen ebenfalls entführt wurde? Nina hatte ihm noch nicht alles erzählt. Aber er spürte, dass noch mehr vorgefallen sein musste als sie ihm sagte. Etwas, wofür sie sich schämte, hatte er das Gefühl. Wofür sie sich schuldig fühlte. Wenn er sich so Bens Verletzungen besah, die nicht vom Unfall stammten, mochte er sich gar nicht erst ausmalen, was geschehen war. Würde er es von Nina erfahren und würde er ihr helfen können? So viele Fragen. Und die Antworten würde die Zeit zeigen. Zeit, die sie aber nicht hatten, solange die Täter auf freiem Fuß waren. Semir war so abgelenkt, dass er beinahe gar nicht merkte, wie seine Hand leicht gedrückt wurde und Ben sich langsam zu regen begann.
“Semir?…”, kam es stockend und heiser von Ben. Er hatte die Augen noch geschlossen, aber man sah, dass er wach war. “Ja ich bin hier”, entgegnete Semir sogleich, drückte seine Hand fester und strich ihm mit der anderen durch seinen Haarschopf, als Zeichen, dass er bei ihm war. “Semir…”, kam es immer noch leise, aber auch erleichternd von Ben und Semir sah wie er den Kopf bewegte und versuchte die Augen zu öffnen. “Lass dir Zeit”, sagte Semir, denn er merkte, dass es Ben wohl große Anstrengungen kostete. Nach mehreren Versuchen hatte es Ben endlich geschafft seine Augen einen Spalt weit zu öffnen und er blickte Semir müde an. Ein leichtes Lächeln umspielte Bens Mundwinkel, als er Semirs Gesicht nun erkennen konnte. Er war froh, dass sein Partner an seiner Seite war. “Wie fühlst du dich?”, erkundigte sich Semir als erstes. “Wie vom LKW überfahren”, entgegnete Ben mit kratziger Stimme. Ein kurzer Moment des Schweigens trat ein, denn Ben musste nochmals seine Kräfte sammeln. “Was ist passiert Semir? Warum bin ich hier?… Irgendwie… ist alles weg… ich weiß nicht…”. “Nur die Ruhe, Ben. Du hattest einen Unfall und eine schwere Gehirnerschütterung. Das ist normal, sagte der Arzt, dass du vielleicht einige Gedächtnislücken hast. Ich erklär dir alles, wenn du wieder etwas fitter bist”. Semir wollte Ben wie angewiesen nicht überfordern. Und da er sah, das Ben noch sehr schwach war und mühe hatte wach zu bleiben, hofft er Ben würde sich mit dieser Erklärung vorerst begnügen. Und er hatte recht, denn Ben nickte nur und schloss schon wieder die Augen. Nach wenigen Sekunden konnte er sehen, dass Ben wieder eingeschlafen war. Doch Semir wich weiterhin nicht von seiner Seite.
In den nächsten Stunden wurde Ben immer wieder kurzzeitig ein paar Minuten wach. Er war aber immer noch so erschöpft und mitgenommen, dass er nach ein paar Worten immer schon wieder einschlief. Deshalb verabschiedete sich Semir am Abend von Ben und versprach ihm morgen gleich in der Früh wieder zu kommen. Ben sollte noch seine Kräfte sammeln bevor Semir ihn mit seiner Entführung konfrontieren wollte. Bevor er das Krankenhaus verließ sah er aber nochmals wie versprochen nach Nina. Er erzählte ihr, wie es Ben ging und das er ihn morgen wenn möglich schon über ein paar Details befragen wollte. “Bitte sag ihm aber wenn möglich nichts von mir. Ich weiß nicht, wie er reagieren würde. Wir haben uns schließlich lange nicht gesehen. Ich möchte nicht, dass er sich aufregt oder Sorgen macht. Das wäre nicht gut für ihn“. “Ich werde sehen, wie sich das Gespräch entwickelt. Aber keine Sorge, ich werde mich um ihn kümmern”. “Das weiß ich”, sagte Nina und sie verabschiedeten sich. So machte sich Semir dann auf den Weg nach Hause.