Ben kam von draußen rein und sah dann Tommaso mit verweinten Augen aus einem Raum rennen. „Und wage es nicht noch einmal, mir unter die Augen zu kommen. Dieser Name wird in meinem Hause nie wieder genannt.“, hörte er Don Salvestro schreien. Kurz darauf ging er selbst aus dem Zimmer und schritt in den hinteren Teil des großen Hauses. Alfredo Cutolo, seine rechte Hand, folgte ihm. Beide achteten nicht auf Ben, der sich an die Wand presste und seine Chance witterte. Freie Bahn...dachte er nur und schlich in das Büro hinein. Hier mussten sich doch irgendwie Unterlagen finden lassen. Ben sah sich um und schloss die Tür. Er fühlte sich wie einer dieser Filmagenten. Nur war dies hier die Realität und er war nicht James Bond oder Jerry Cotton. Er konnte sterben und diese Mafiosos würden keinen Moment zögern. Hier würde kein Regisseur „Aus“ schreien. Er sah auf den großen Schreibtisch, ging darauf zu und fing an, die Schubladen aufzuziehen. „Komm schon...irgendwo musst du doch was aufgeschrieben haben...“, fauchte er und ruckelte dann an der untersten Schublade. „Na, was ist denn das?“, fragte Ben und grinste. Doch sie war verschlossen. „Verdammt...dann eben mit Gewalt...“, murmelte er und griff zum Brieföffner. Stimmen drangen vom Flur her. Erschrocken hob Ben den Kopf und ließ alles fallen. Schnell verschwand er hinter dem Wandteppich und schaute dahinter verstohlen hervor.
Alfredo Cutolo, das erkannte Ben an der Stimme, und ein anderer Mann kamen ins Zimmer. „Was dieses neue Ding mit dem Hauslehrer soll? So langsam wird mir der Alte komisch und lästig.“, knurrte Cutolo nur und blieb an der Couch stehen. „Vielleicht ist es Zeit, uns einen neuen König zu wählen.“, dachte der Zweite laut. „Wie war das? Du willst Salvestro beseitigen? Du weißt, was sie Familien in Italien dazu sagen würden.“, fauchte Cutolo nur. „Nicht, wenn er von einem Polizisten erschossen wird. Manuele hat doch einen Polizisten angeschossen. Ich hab gehört, der Mann liegt im Koma. Was, wenn wir einfach sein Gesicht und seinen Namen benutzen, Salvestro dann in eine Falle locken und ihn erschießen?“, fragte der Mann, den Ben nicht sehen konnte. Er stand mit dem Rücken zu ihm, als er einen Blick riskierte. Cutolo sah angestrengt zum Fenster hinüber. Er schien dem Vorschlag nicht abgeneigt zu sein. „Wie willst du das Gesicht des Bullen verwenden? Wir haben nichts von ihm. Rein gar nichts.“, erklärte der Mafioso nur. „Was wir brauchen ist ein Foto. Weiter nichts. Danach lässt sich eine Latexmaske am Computer erstellen. Glaub mir, das wird funktionieren.“ „Ich werde drüber nachdenken. Bisher geht es uns noch gut. Wir warten einfach. Unsere Geschäfte laufen. Sollte sich irgendwas negatives ergeben, werde ich auf deinen Vorschlag zurückkommen.“, meinte Alfredo Cutolo und verschwand dann mit seinem Begleiter aus dem Zimmer. Aufatmend kam Ben hinter dem Teppich hervor. Waren seine Ohren in Ordnung? Hörte er gerade das, was er gehört hatte? Diese Kerle wollten Semir, besser sein Gesicht, dazu benutzen, um den Mafiakönig loszuwerden. Das musste verhindert werden? Aber wie?
Kemal schloss seinen Laden und machte sich auf den Weg. Er wollte zu Semir fahren. Andrea hatte ihn angerufen und erzählt, was passiert war. Nun wollte sie mit ihm sprechen. Kemal ging das Schicksal seines Bruders sehr nahe. Sie hatten sich doch erst wiedergefunden. Warum war Gott so ungerecht zu ihnen? Warum nur? Kemal wusste keine Antwort. Irgendwie ahnte er, dass etwas schlimmes passiert sein musste. Sonst würde Andrea doch alles mit ihm am Telefon besprechen, dachte er sich und stieg in seinen 3er BMW. Er lächelte. Um so ein Fahrzeug hatten er und sein Bruder sich gestritten, als sie gerade mit der Fahrschule fertig waren. Damals waren beide gleich stark und versuchten sich immer gegenseitig zu übertrumpfen. Meist ging aber ihr Vater dazwischen, wenn es allzu stark wurde. Mit diesen Erinnerungen im Kopf drehte Kemal den Schlüssel im Zündschloss und ließ den Motor aufheulen. Schnellstens war er bei Andrea vorm Haus, ließ die Zentralverriegelung einrasten und ging auf das Haus seines Bruders zu. „Hallo Kemal...“, begrüßte ihn Andrea, nachdem er geklingelt hatte. Sie begrüßten sich mit jeweils einem Kuss auf die Wange links und rechts. „Andrea, du klangst so aufgeregt am Telefon. Was ist passiert?“, fragte er und sah sich nach den Kindern um. „Es...es geht um Semir. Der Arzt hat mir gesagt, dass Semir zwei Jahre vollkommen vergessen hat.“, erklärte sie und war wieder den Tränen nahe. „Andrea...Andrea...Andrea, ganz, ganz ruhig...was ist passiert?“, wollte Semirs Bruder wissen. Und Andrea fing an, alles zu erzählen.
„Oh man...wir müssen was machen. Andrea, wir sollten mit dem Psychologen darüber reden. Und vor allem muss Semir es wissen.“, erklärte er. „Aber...aber er ist noch so schwach. Was, wenn er über diesen Schreck wieder ins Koma fällt oder schlimmeres?“ Ihre Stimme zitterte und der Körper bebte vor Angst. Angst um ihren Mann, um den Vater ihrer Kinder. „Er ist stark. Auch, wenn es im Moment nicht so aussieht. Du weißt, was für ein Sturkopf er sein kann.“, meinte Kemal und nahm seine Schwägerin in den Arm. „Komm, lass es uns versuchen.“ Andrea nickte und ließ die Umarmung zu. „Kannst du...kannst du heute Nacht hier bleiben?“, fragte sie. Kemal tat ihr den Gefallen. Auch er machte sich Sorgen um seinen Bruder. Doch er musste jetzt Andrea unterstützen. Sie schien unter dieser Last fast zusammenzubrechen. Und das durfte nicht sein. Ein Elternteil im Krankenhaus war mehr als genug. Die Kinder brauchen ihre Mutter.
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