Layla blickte mehrfach ebenso skeptisch in Susannes Richtung, während sie die Kabelbinder befestigte. Da Cemal ihr genau auf die Finger sah, ergab sich keine Möglichkeit, diese locker zu lassen oder sonst etwas an der Befestigung zu drehen. Diese verfluchten Dinger saßen also zu Semirs Leidwesen viel zu fest, um aus eigener Kraft einen Befreiungsversuch zu starten. Sie waren zwar nur aus Plastik, zudem klein und unscheinbar, dabei aber äußerst effektiv. Jetzt lag es erst mal nur an Ben, doch so wie der im Moment aussah, konnte Semir wohl keine Hilfe erwarten.
Cemal packte Layla am Arm und zog sie in Richtung Tür. Ekim trat zu Susanne, die noch viel zu weit weg von Ben war, als dass er ihr hätte helfen können. „Und du gehst jetzt auch mit“, herrschte er sie an. Susanne blickte erschrocken zu Ben, langsam begann sie den Ernst der Lage zu begreifen. Seine Sorge stieg, doch wenigstens hatte sie jetzt verstanden, dass sie sich anders verhalten musste. Doch es war schon zu spät. Ekim stellte sich vor sie. „Und das ist dafür, damit du dir merkst, dass man mir keine Widerworte gibt“, sagte er kalt lächelnd. Ohne weitere Vorwarnung holte er aus und schlug Susanne mit ganzer Kraft ins Gesicht. Von der unvermittelten Wucht des Schlages völlig überrascht wurde ihr Kopf zur Seite geschleudert und schlug gegen die Wand. Ihr wurde kurz schwarz vor Augen und ihre Beine gaben unter ihr nach.
„Susanne, nein!“ schrie Ben entsetzt auf. „Du mieser Scheißkerl!“ Ohne einen Augenblick nachzudenken sprang er auf Ekim zu und vergaß dabei völlig, dass Cemal auch nicht weit von ihm entfernt stand. Dieser war ebenso schnell wie Ben. Cemal griff nach ihm und packte zielsicher Bens verletzte Hand. Ein stechender Schmerz fuhr trotz des stabilen Verbandes durch Bens Arm und lenkte ihn kurz so ab, dass es Cemal gelang, seinen Ellebogen schwungvoll in Bens Brustbein zu rammen. Von dieser massiven Wucht gestoppt wurde Ben nach hinten geschleudert und fiel rückwärts zu Boden, denn es gab nichts, an dem er sich hätte festhalten können.
Susanne hatte sich schon oft über den Glastisch beklagt, der ihrer Meinung nach überhaupt nicht zu den anderen Möbeln passte, aber Ben hing an diesem Einrichtungsgegenstand, da er sich diesem von seinem ersten selbst verdienten Geld gekauft hatte. Für ihn war dieser Tisch immer ein Zeichen für den Beginn seiner Unabhängigkeit gewesen. Doch dies wurde ihm jetzt zum Verhängnis, als er rücklings auf der Tischplatte aufkam, die seinem Gewicht und vor allem dem Schwung, mit dem er fiel, bei weitem nicht gewachsen war. Mit einem lauten Knall zersplitterte sie in tausend kleine Teile und Ben blieb regungslos liegen.
Einen Moment lang herrschte Stille, dann begann Semir nach seinem Freund zu rufen: „Ben? Ben! Was ist mit dir? Sag doch was, bitte!“ Doch es kam keine Antwort. Mit flehendem Blick wandte er sich an Cemal. „Bitte, Sie müssen mich zu ihm lassen!“ „Ich muss gar nichts“, erwiderte dieser jedoch. „Und jetzt werden wir endlich gehen und besorgen, was ich haben will. Du passt hier auf“, wandte er sich noch an seinen Komplizen. Ekim nickte und Layla war die Angst förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie würde nicht wagen, Widerstand zu leisten, sie würde tun, was man von ihr verlangte. Auch Susanne hatte sich inzwischen wieder hoch gerappelt, von ihrer linken Augenbraue floss Blut herab, doch sie bemerkte es nicht. Ihr Blick war nur auf Ben gerichtet, der mit geschlossenen Augen auf den Scherben seiner Unabhängigkeit lag. An beiden Seiten seines Rückens und an den Armen lief Blut entlang und tränkte den hellen Teppichboden. ‚Die Flecken werden wir nie wieder raus kriegen’ dachte Susanne, die völlig neben sich stand und deren Verstand sich trotz des eindeutigen Anblicks weigerte, zu akzeptieren, was gerade passiert war. Sie nahm nicht wahr, dass sie begonnen hatte, zu zittern; Cemal hatte jedoch kein Mitleid mit ihr, packte sie am Arm und zog sie unbarmherzig mit sich. Layla folgte ihnen still. Sie wusste, dass er jetzt so weit war, kurzen Prozess mit ihr zu machen, wenn noch etwas nicht nach Plan lief, oder sie versuchen würde, zu fliehen. Und eine Tote wollte Layla nicht auf ihrem Gewissen haben. Das war auch der einzige Grund, warum Susanne mit ihnen kommen musste. Cemal wusste ganz genau, dass Layla so kooperieren und keine Tricks versuchen würde. Susanne ließ sich einfach mitziehen, sie war nicht mehr in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen.