Semir blickte zu Boden. Vielleicht wusste er wirklich nicht so genau Bescheid, wie er gedacht hatte. Hatte Starling wirklich nur verzweifelt versucht, Lecter abzulenken und dazu zu bewegen, dass er sie in Ruhe ließ? Und die These, dass Lecter ihr diesmal wieder nichts angetan hätte, war reichlich vorschnell – das wusste er. Wortlos, mit gesenktem Blick, verließ den Raum und ließ die beiden Frauen zurück.
Auf dem Gang kam ihm Ben entgegen: „Na Partner, wieder beruhigt? Euer Geschrei war ja in der ganzen Dienststelle zu hören.“ Semir ging nicht auf die provozierende Frage ein: „Noch irgendwas Neues?“ „Ne, außer dass Lecter sie von einem Handy aus angerufen hat, das sich zum Zeitpunkt des Gesprächs logischer Weise in der Mobilfunk-Wabe rund um das Hotel befand. Ist aber keine Überraschung, schließlich stand er gleich darauf bei ihr im Zimmer. Jetzt ist es ausgeschaltet – wir können es also nicht orten.“ Semir stöhnte: „Wär ja auch zu schön gewesen.“ „Aber du kannst dir die restliche Tonbandaufnahme später noch anhören.“, bot Ben ihm an. Dann streckte er seinem Partner noch einen Brief entgegen: „Das ist übrigens der Brief aus dem Hotelzimmer. Hab noch nicht reingeschaut. Wahrscheinlich von Lecter an Clarice. „Oh, wenigstens etwas.“ Semir nahm den Brief entgegen, den sie eine Stunde zuvor sichergestellt hatten. In all der Hektik war noch niemand dazu gekommen, ihn zu öffnen. Auch Clarice hatte nicht mehr an ihn gedacht. Gespannt riss Semir den Umschlag auf und zog das Briefpapier heraus. Die Schrift war geschwungen, altmodisch, wie mit Feder geschrieben. Als Ben den Rosenduft vernahm, rümpfte er kurz die Nase. Er sah seinem kleineren Partner über die Schulter, während sie lasen:
Guten Abend Clarice,
Könnte es sein, dass Sie abermals versuchen, meinen Aufenthaltsort herauszufinden?
Es ist bedauerlich, dass Sie mir den Luxus der Freiheit nicht zu gönnen scheinen. Oder am Ende doch nur ein letztes verzweifeltes Aufbäumen dieses grässlichen Jack Crawfords? Die ein letztes Mal aufkeimende Gier nach Anerkennung und Ruhm, bevor er als bis zu seinem Tode vor sich hin vegetierender Rentner tagtäglich mit einer Zeitung auf seinem Schoß in einem Ohrensessel einschlafen wird? Hat er Sie als Unterstützung abkommandiert, weil er wusste, er würde nur mit Ihnen eine Chance haben, mich zu schnappen?
Ich glaube, Sie sollten sich von ihrem Vorgesetzten trennen. Ich könnte das für Sie arrangieren.
Vielleicht bei einem letzten gemeinsamen Abendessen?
Der deutsche Wein ist übrigens ausgezeichnet – wobei ich die Weine Württembergs denen des Mittelrheins vorziehe. Wie gut diese zu einem zarten Kalbsbries passen... Sie sollten es einmal versuchen, Clarice.
Und wie läuft die Arbeit mit Ihren neuen, deutschen Kollegen? Eine dilettantische Truppe, wie mir scheint. Ich würde sie gerne kennenlernen. Lassen Sie schon Ihr Telefon abhören? Die können doch nicht ernsthaft glauben, mich mit solch einfältigen Tricks schnappen zu können? Trotzdem werde ich Sie nicht enttäuschen.
Ich freue mich schon auf eine baldige Unterhaltung mit Ihnen, Clarice.
Hochachtungsvoll,
Hannibal Lecter M.D.
PS: Schweigen die Lämmer denn mittlerweile? Sie werden es mich wissen lassen, nicht wahr?
„Der Typ nervt langsam!“, stieß Ben ärgerlich aus. Semir blieb ernst: „Ben, das ist kein Kindergarten-Spaziergang. Der ist uns immer einen Schritt voraus.“ „Für mich klingt das eher nach jeder Menge psychischer Störungen, zusammen mit Arroganz und ein bisschen Glück!“ „Ben!“, wies Semir seinen Partner zurecht: „Sei vorsichtig mit dem. Wir sind entschieden im Nachteil. Sag mir irgendeinen Punkt, wo wir ansetzten sollen! Wir haben nichts!“ Innerlich ertappte Ben sich dabei, wie er kurz an seiner Sicherheit zweifelte. War sein verhalten nur ein Schutzreflex? Wollte er nur nicht zeigen, dass er genauso fühlte wie sein Partner und dies mit Trotz überspielen? Das würde er sich niemals eingestehen, geschweige denn zugeben. Also wechselte er mit einem Blick auf die Uhr das Thema: „Ich geh jetzt nach Hause. Bis morgen!“ Noch immer leicht trotzig machte Ben auf dem Absatz kehrt und verließ die Dienstelle. Auch heute sah Semir seinem Partner nachdenklich nach, wie er die Polizeistation verließ und dann von der Nacht verschluckt wurde.
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