Während Ben immer noch schlief,hatte Semir inzwischen wieder sein Bett aufgesucht.Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte-diese Aktion hatte ihn sehr mitgenommen.Lieber hätte er die Schmerzen selber ausgehalten,als zuzusehen und zu hören,wie jemand anderem,der ihm nahestand,weh getan wurde.Als er allerdings seinen Blick zum Nebenbett wandte und Bens entspannten Gesichtsausdruck wahrnahm,der selig schlief und anscheinend gerade gar keine Schmerzen hatte,dann war er doch froh und glücklich,dass es so abgegangen war.Wie ihm der Arzt auch schon erklärt hatte-es wäre sicher nicht besonders gut für Ben gewesen,wenn er wieder Opiate gekriegt hätte und die Sache mit dem Entzug dann von vorne losgegangen wäre.
Also schnappte sich Semir ein Buch,das ihm Andrea mitgebracht hatte und begann zu lesen.Er kam normalerweise eher selten zum Lesen,denn der Alltag forderte seinen Tribut,aber so versank er in kürzester Zeit in der packenden Handlung des Buches und fand erst wieder in die Realität zurück,als die Schwester das Mittagessen brachte.
Gedankenverloren legte Semir das Buch auf dem Nachtkästchen ab und dann spürte er plötzlich intensive Blicke auf sich.Er sah zum Nebenbett und tatsächlich musterte Ben ihn wortlos. „Hey!“ sagte er,als er gewahr wurde,dass Semir nun nicht mehr mit seiner Lektüre beschäftigt war.Semir grinste ihn an. „Ertappt!“ sagte er-ich habe gerade völlig die Realität hinter mir gelassen und bin gerade mitten in der Südsee-nach einem Schiffbruch auf einer einsamen Insel gestrandet!“ setzte er erklärend hinzu.Nun war es an Ben zu grinsen. „Ja,das habe ich an deinem Baströckchen schon gesehen!“ setzte er feixend nach und nun musste auch Semir laut lachen. „Nun stell dir das mal vor-wir beide beim Hula-Tanzen!“ prustete er los und nun musste auch Ben herzhaft mitlachen.
Wenig später wurde Ben wieder von zwei Pflegekräften in den Mob-Stuhl gesetzt und vertilgte mit Genuss sein Mittagessen.Keine störenden Schläuche mehr an Bauch und Oberschenkel-wie geil fühlte sich das an! Heute konnte er schon problemlos sein Besteck halten und war sogar schneller fertig,als Semir. „Wie in alten Zeiten!“ bemerkte der und wagte kaum zu hoffen,dass die Normalität bald wieder Einzug halten würde.
Kurz vor der Besuchszeit-Ben sass immer noch ganz zufrieden in seinem Stuhl,kamen plötzlich zwei Pflegerinnen ins Patientenzimmer und schalteten Semirs Monitor ab.Sie lösten die EKG-Kleber und erklärten ihm: „Herr Gerkan,wir brauchen dringend ihren Bettplatz für einen akuten Notfall.Sie werden jetzt auf Normalstation verlegt.“ Bevor sie sich versahen,wurde Semirs Bett auf den Flur gebracht,der Bettplatz desinfiziert und ein neues Bett mit einem Akutpatienten wurde hineingeschoben.Ben kam überhaupt nicht mehr dazu,irgendwas zu seinem Freund zu sagen,so schnell war der weg.
Ben konnte schon eine ganze Weile nicht mehr gut sitzen,aber er getraute sich nicht,das jemandem mitzuteilen,denn hinter dem inzwischen vorgezogenen Vorhang zum Nachbarbett wurde eifrig reanimiert.Anscheinend ging es dem Patienten daneben sehr schlecht.Atemlos lauschte Ben auf die Worte,die die Ärzte und Pfleger sich zuriefen.Immer wieder wurden Medikamente angefordert,neue Maschinen und Geräte zur Tür hereingefahren,aber anscheinend besserte sich der Zustand seines neuen Mitpatienten in keiner Weise.Irgendwann-Ben hatte schon jegliches Zeitgefühl verloren und sass nur noch geschockt und still in seinem Stuhl,da ertönte die ruhige Stimme des Arztes: „Todeszeitpunkt: 13.46 Uhr.Ben war nun fix und fertig.Natürlich hatte er in seinem Berufsleben schon Menschen sterben sehen,sogar seine Hand hatte schon die Waffe geführt,die einen anderen das Leben gekostet hatte,aber das hier war etwas anderes.Überdeutlich wurde ihm die Endlichkeit seines eigenen Seins vor Augen geführt.Er begann laut zu schluchzen und die Schwestern,die bisher ihren Fokus auf den Patienten im Nachbarbett gerichtet hatten,erinnerten sich nun wieder an ihn. „Herr Jäger,wir bringen sie jetzt wieder in ihr Bett!“ kündigten sie an und bevor Ben sich versah,lag er auch wieder darin. „Ich weiss,das war jetzt schlimm für sie,aber der Mann neben ihnen war 92 Jahre alt und ist beim Sonntagsspaziergang umgefallen.Wenn das kein Segen ist,so abtreten zu dürfen,dann weiss ich auch nicht!“ versuchte ihn die eine Schwester zu trösten,die nebenbei seinen Rücken noch mit Franzbranntwein abrieb.
Ben schluchzte nur noch lauter und sagte ganz verloren:“Semir soll kommen!“ bevor er sich die Decke über den Kopf zog.