Ben stand hinter der Glasscheibe im Krankenhaus und eine große Erleichterung durchflutete ihn. Semir hatte ihn angesehen, ihn erkannt und den Daumen gehoben, zum Zeichen, dass es ihm besser ging. Seit dem schrecklichen Unfall hatte er befürchtet, dass sein Freund und Kollege nicht mehr aus dem Koma aufwachen würde. Andrea war die ganze Zeit an seiner Seite gewesen, aber auch sie war von den Ärzten im Unklaren gelassen worden, was aus Semirs Kopfverletzungen werden würde.
Langsam ließ seine Anspannung nach und er ließ die letzten Tage nochmals Revue passieren. Als Semir aus dubiosen Kanälen die Tickets für das ManU –Duell gekauft hatte, war er voller Begeisterung gewesen und hatte sich riesig auf einen tollen Fußballabend mit Semir gefreut. Die Plätze waren erste Sahne gewesen und er konnte sich heute nicht mehr vorstellen, warum er einen Abend mit seinem Jugendfreund Jan einer Unternehmung mit Semir vorgezogen hatte. Der hatte ihm zwar mit seinem: „Geh schon!“ signalisiert, dass das in Ordnung war, aber wie er sich dabei gefühlt hatte-vermutlich wie ein abgelegter Freund zweiter Wahl-wollte er sich lieber nicht vorstellen. Er war ein Blödmann gewesen, weil er auf die Gefühle seines Freundes keine Rücksicht genommen hatte und egoistisch einen Ausflug in seine eigene Vergangenheit unternommen hatte.
Natürlich war er überrascht gewesen, als Jan plötzlich auf der Dienststelle erschienen war, aber seine Freude hatte überwogen und anstatt sich zu diesem Zeitpunkt bereits kritisch zu fragen, warum Jan gerade jetzt auf die Idee gekommen war, ihn zu besuchen, hatte er begeistert dessen Vorschlag angenommen, einen draufzumachen und hatte den Abend in vollen Zügen genossen. Wie in alten Zeiten hatten sie Blödsinn gemacht und die Tatsache, dass Jan im Rollstuhl saß, hatte ihn nochmals unkritischer sein lassen. Was sollte dieser Krüppel auch für eine Gefahr darstellen? Er konnte sich dunkel erinnern, dass die Sprache auf die Route des Transportes gekommen war und er hatte sorglos Dienstgeheimnisse ausgeplaudert, nur weil er der Meinung gewesen war, sein Jugendfreund wäre absolut vertrauenswürdig. Aber wie man gesehen hatte-auch Menschen, die man meint gut zu kennen, konnten sich ändern und aus seinem Freund Jan war ein gefährlicher Racheengel geworden.
Er hatte auch nicht auf Semir gehört, als der diesen Verdacht gehabt hatte und ihn stattdessen angeschrien, als der seine berechtigten Zweifel geäussert hatte. Vielleicht hatte Semir deswegen die Konzentration vermissen lassen, als der Unfall passiert war? Das war ein blöder, vermeidbarer Fahrfehler gewesen, aber beinahe hätte ihn sein Freund mit dem Leben bezahlt. Aber vielleicht war Semir in der Nacht zuvor wach gelegen und hatte sich gegrämt, weil Ben auf einmal nur noch Augen für seinen alten Freund gehabt hatte? Semir hatte eine Menge Geld für die Tickets bezahlt und war auch ein Risiko eingegangen, denn der Freund, der schwarz mit den Tickets handelte, war sicher nicht ganz sauber gewesen und eigentlich konnte man wegen sowas seinen Beamtenstatus verlieren, wenn einem das nachgewiesen wurde!
Nichtsdestotrotz hatte er sich doch eigentlich wahnsinnig auf den gemeinsamen Fußballabend gefreut-mit Bier und allem was dazugehört- und dann hatte er Semir fallen lassen, wie eine heiße Kartoffel. Jan, Jan und nochmals Jan! Die gemeinsame Bandvergangenheit, Eva-ach er hatte sich plötzlich gefühlt und benommen, wie viele Jahre vorher. Allerdings war er da jung gewesen und hatte keine Verpflichtungen gehabt. Im Internat, in dem die Kinder reicher Eltern geparkt wurden und wo er Jan kennengelernt hatte, hatten sie gegen die Obrigkeit rebelliert und waren gemeinsam gegen den Rest der Welt aufgestanden-wie man mit 16 halt so war! Aber heute führte er ja eigentlich genau das Leben, das er sich ausgesucht hatte, denn wenn es nach seinem Vater gegangen wäre, dann wäre er ins elterliche Geschäft eingestiegen. Er hatte sich durchgesetzt und war zur Polizeischule gegangen und hatte gegen die väterlichen Widerstände seine Berufswunsch durchgezogen.
Und nun hatte er vor 5 Jahren Semir kennengelernt. Ihr erstes Zusammentreffen war nicht unproblematisch gewesen, aber inzwischen hatten sie sich zu einem tollen Team zusammengerauft, das sich blind vertraute-na ja, außer es kam so ein Jan dazwischen! Ben fragte sich, warum er eigentlich so blöd gewesen war, aber diese Frage würde er wohl nie beantworten können. Die letzten Tage waren die Hölle für ihn gewesen, denn er hatte immer befürchtet, Semir könnte sterben, oder ein Pflegefall bleiben, ohne dass er die Möglichkeit gehabt hätte, ihm zu sagen, was für ein Hornochse er gewesen war! Er fühlte sich schuldig an dem Unfall und wenn Ayda und Lilly ohne ihren Vater hätten aufwachsen müssen, dann wäre er nicht darüber hinweggekommen. Die schrecklichen Bilder nach dem Crash, als Semir erst bewusstlos im Wagen eingeklemmt war und dann intubiert abtransportiert worden war, hatten sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Wie kostbar war das Leben und die Gesundheit!-dachte er, als er hinter sich die Stimme der Chefin vernahm. Er drehte sich langsam um und hörte zu, was Kim Krüger zu ihm zu sagen hatte.