Kevin’s Wohnung – 10:15 Uhr
Ben sass in seinem vorrübergehenden Dienstwagen und trommelte nervös auf seinem Lenkrad herum. Immer wieder sah der Kommissar auf die Uhr an seinem Handgelenk, dann wieder auf die Haustür des Plattenbaus, aus dem er jede Minute Kevin erwartete, den er gestern nach Hause gefahren hatte. Er hatte bereits zweimal auf sein Handy angerufen, doch es nahm niemand ab. So langsam schlichen sich wieder einige Sorgen, die Ben gestern noch verdrängt hatte, in seine Gedanken. Hatte Kevin nur verschlafen? Aber warum ging er nichts ans Handy?
Ben hatte die Ungewissheit satt, zog den Schlüssel aus dem Zündschloß und stieg aus dem Wagen aus. Die Sonne schien vom Himmel, es war kein Wölkchen zu sehen, es war ein herrlicher Wintertag mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Bens Atem hinterließ Kondensdampf als er zur Haustür des Plattenbaus schritt und Kevins Name auf der Klingelliste suchte. „Kevin Peters“, stand dort in Handschrift auf einen Zettel geschrieben, und der Kommissar betätigte die Klingel mehrmals. Keine Reaktion, kein ertönendes Signal, dass Kevin die Tür von oben öffnete. Genervt lehnte sich Ben an die Haustür und wäre beinahe in den Hausflur gefallen, als die plötzlich nachgab. Erst dachte er, es hätte von innen jemand gezogen, doch da war niemand… sie ging von alleine auf. „Toll geschützt.“, murmelte Ben und betrat den nach kaltem Rauch riechenden Flur und die Treppe nach oben. Er musste durch jeden Gang durch, weil er nicht wusste, in welchem Stock Kevin wohnte. Glücklicherweise hatte der junge Polizist ein Namensschild auch an der Tür, als Ben durch den dritten Stock ging und an die betreffende Tür klopfte. Erneut bekam er keine Reaktion, und so langsam wuchsen die Sorgen in Bens Kopf. Erneutes Klopfen und ein „Kevin? Bist du da?“, erfüllten den diesigen und recht düster wirkenden Flur. Plötzlich vernahm Ben ein Geräusch aus der Wohnung, und er hielt kurze Zeit still. Das Geräusch war konstant, ein leises Rauschen, was der Polizist als Dusche entziffern konnte, als er den Kopf an die dünn wirkende Tür legte. Also war Kevin wach und würde wohl gleich kommen, dachte Ben und lehnte sich an die gegenüberliegende Wand. Doch es verging Minute um Minute, und nichts tat sich. Auch das Duschwasser rauschte konstant in Kevins Wohnung und die Sorgen , die sich gerade davon geschlichen hatten kamen zurück zu Ben. Plötzlich traf ihn ein Gedanke… sollte der Mann, der Ben und Kevin gestern bedroht hatte, ihnen gefolgt sein und hatten Kevin überfallen? Einige Gedanken flogen in Bens Kopf hin und her, wägten ab wie wahrscheinlich die Möglichkeit für einen Überfall war. Während der Gedanken lief das Duschwasser unentwegt weiter, und Ben entschloss sich, in die Wohnung zu gehen.
Mit einer Kreditkarte in der Hand war es bei diesem recht betagten und alten Schloß ein leichtes Spiel, den Bolzen zu bewegen. Als sich die Tür öffnete wurde das Duschwasser sofort lauter, es drang durch die offene Tür am Ende des Zimmers, das als Wohnraum und Küche diente. Ben wunderte sich über die Einfachheit der Wohnung, er war wahrlich besseres gewohnt und konnte sich nur schwer vorstellen hier einmal dauerhaft zu wohnen. Leise, ohne laut aufzutreten, ging Ben langsam durch die Wohnung. Er hatte den Halfter seiner Waffe geöffnet und die rechte Hand in der Nähe des Griffes. Auf dem Tresen der Küche fiel ihm sofort ein Magazin ins Auge, das komplett mit Kugeln gefüllt war und wohl zu Kevins Waffe gehörte. Der Weg führte den Kommissar durch den Wohnraum ins Badezimmer, wo die Dusche unentwegt ihren Dienst verrichtete. Der Duschvorhang hing vor der Dusche und ließ Ben keine Einsicht, ob sich jemand dahinter verbarg. Das Prasseln des Wassers und das Gurgeln des Abflußes kam nur noch ganz leicht gedämmt durch den Stoff des Vorhangs. Ben umgriff mit der linken Hand den Vorhang, die rechte legte sich nun fest um den Griff seiner eigenen Waffe, auf alles vorbereitet was er nun hinter dem Vorhang zu sehen bekam. Entweder ein Eindringling, der sich versteckt hatte, oder Kevin der gerade duschte.
Mit einem Zug verschwand der Vorhang, und nichts von beidem befand sich dahinter. Die Duschkabine war leer, das Wasser prasselte in die Duschwanne in der Kevins Waffe lag – ohne Magazin. „Was geht hier vor?“, murmelte Ben sichtlich verwirrt und nervös, als er das Wasser abdrehte und Kevins durchnässte Waffe aufhob um sie in der Küche auf den Tresen zu legen. Dann begab sich Semirs Partner zur zweiten Tür in diesem Raum und legte vorsichtig die Hand auf die Klinke. Wieder eine Hand am Griff der Waffe zur Vorsicht, drückte er die Klinke nach unten und schaute durch den immer größer werdenden Spalt der Tür ins Zimmer. Langsam konnte er das Ende eines Bettes darin erkennen, dann kamen zwei regungslos liegende nackte Füße in sein Blickfeld die zu zwei leicht verdreht liegenden kräftigen Beine gehörten. Ben hielt die Luft an, als letztendlich Kevin komplett in sein Blickfeld geriet, halb auf der Seite liegend und Ben den Rücken zu gewandt. Er trug nur schwarze Boxer-Shorts, neben dem Bett stand eine nur noch Fünftel-volle Flasche Whiskey und mehrere Zigarettenstummel. Die Luft in dem Raum war verbraucht und stickig, als Ben eintrat und sein Gesicht vor Überraschung entglitt. „Das glaub‘ ich jetzt nicht.“, murmelte er. Eine Hand nahm er weg von der Waffe und ging mit gemächlichen Schritten an Kevins Bett heran. Er konnte Kevins Gesicht nicht sehen, was er aber sehen konnte waren die beiden großen Stichnarben auf seinem nackten Rücken. Und das Tattoo eines Konterfeis, eines ungefähr 15 Jahre alten, äusserst hübschen Mädchen. Darunter stand ein Geburtsdatum „11.02.1987“ und ein Todesdatum „16.07.2002“. Ein ungutes Gefühl breitete sich in Bens Magengegend aus, die Situation war ihm unangenehm, trotzdem berührte er mit sanften Druck Kevins Arm, der auf dessen Körper ruhte und schüttelte ihn etwas. „Psst. Kevin! Wach auf.“
Plötzlich zog Kevin Luft durch Mund und Nase, es war ein Geräusch des panischen Erschreckens, ein Ruck ging durch seinen Körper dass Ben vor Schreck zurückwich. Der Polizist auf dem Bett rappelte sich mit Schwung auf, drehte sich auf den Rücken und fuhr dann kerzengerade nach oben in die Sitzposition, um sich dann mit panischem Blick und weit aufgerissenen Augen gegen die Wand zu drücken. Eine Hand schlug wie wild auf der Bettdecke, als würde er seine Waffe suchen, die er neben sich vermutete. Erst jetzt sah Ben Kevins blasses Gesicht, deutliche Ränder unter den Augen und unzählige Schweißperlen. „Whoa, ganz ruhig! Ich bin’s, Ben!“ rief Ben, der sich selbst durch Kevins ruckartiges Aufstehen wahnsinnig erschreckte. Kevin atmete, als wäre er gerade einen Marathon gerannt und schaute Ben mit offenem Mund und weiten Augen an. „Oh Gott… mach das nie wieder.“, schnaufte er und schien gar nicht zu regestrieren dass er nur in Unterwäsche vor seinem Kollegen lag. Es dauerte kurz, bis Kevin sich in seinem Zimmer orientiert hatte, und sein Atem sich leicht beruhigte. Ben hatte ihn gerade aus einem seiner zahllosen Alpträume befreit, die ihn in letzter Zeit wieder verstärkt heimsuchten. „Wie kommst du überhaupt in meine Wohnung?“, fragte er dann, und seine Muskeln, die zum Zerreissen gespannt waren, entspannten sich leicht. „Schau mal auf die Uhr! Ich hab mir Sorgen gemacht, als ich das Duschwasser gehört habe.“ Kevin schaute leicht verwirrt. „Duschwasser?“, fragte er verständnislos und Ben merkte, dass sein Kollege offenbar ganz schön einen im Tee gehabt haben musste gestern. „Ja! Deine Dusche ist gelaufen, deine Knarre lag in der Dusche, und du hier?“ Kevin lief ein Schauer über den Rücken… was hatte er gestern abend schon wieder gemacht, als er sich die beiden Pillen eingenommen hatte. Zweimal schon wachte er mit seiner Waffe unter der Dusche auf, einmal lag neben ihm im Bett ein Telefonkabel, dass er offenbar selbst zu einem Strick gebunden hatte. Er rückte von der Wand weg, und schwang seine Beine über die Kante, stützte die Ellbogen auf die Beine und vergrub die Hände vorm Gesicht. Dass ausgerechnet Ben ihn in diesem Zustand finden musste, würde wahrscheinlich sein komplettes Gebilde, seine komplette Mauer aus Abschottheit zum Einsturz bringen.
Ben stand seelenruhig vor Kevin und wartete, ob der junge Polizist etwas von sich aus zu sagen hatte. Als keine Worte aus dessen Mund kamen, nahm Ben die Whiskeyflasche in die Hand. „Du hattest gestern Abend nichts zu feiern, oder?“ Kevin sah zu Ben auf und schüttelte den Kopf. „Ich hab einfach zu viel getrunken.“, meinte er mit seiner monotonen Stimme, ohne seinen Kollegen anzusehen. Der ging mit der Flasche in der Hand auf Kevin zu und setzte sich neben ihn aufs Bett. „Einfach mal so?“, hakte der nach und betonte seine ungläubige Tonlage. „Was ist mit dir los? Ich habe doch gestern abend schon gemerkt, dass etwas nicht stimmt.“