Kevins Wohnung – 19:00 Uhr
Zum ersten Mal nach Jahren hatte Kevin eine Nacht ohne Alptraum überstanden. Das Einzige, was er träumte und zuerst dachte, es sei real war die Begegnung mit Janine. Sonst schlief er fest ohne noch einmal aufzuwachen, bis ihn der Klingelton seines Handys störte. Seine Augen blinzelten, und er murmelte unfreundliche Wörter, als sich seine Augen langsam an die Umgebunsghelligkeit gewöhnten und er sich langsam aufrichtete. Er lag noch mit den Kleidern im Bett, und jetzt plötzlich spürte er doch den ein oder anderen Schmerz in den Knochen. Murrend nahm er sein Handy zur Hand und wischte über das „Abheben“-Symbol. „Was’n?“, meldete er sich mit verschlafener Stimmlage. „Hey, hier ist Ben. Ist alles okay bei dir?“ Ben hatte den ganzen Tag am Abschlussbericht gearbeitet, Semir kam am Nachmittag dazu. Irgendwie hatte ihn die innere Unruhe nun doch dazu gedrängt bei Kevin mal nachzuhören, ob alles okay ist, vor allem als er sich an den schlimmen Zustand von vor zwei Tagen zurück erinnerte. Er wollte dem jungen Polizisten nicht das Gefühl geben, alleine zu sein. „Hmm, ja… alles okay.“, murmelte Kevin und rieb sich mit einer Hand in den Augen, was Ben freilich nicht sehen konnte. Er hörte nur das Gemurmel, und sein Magen zog sich ein wenig enger zusammen. „Wirklich? Du hörst dich so…“, besoffen an, wollte Ben den Satz beenden, doch er schluckte es runter. „Ich hab grade geschlafen.“, erwiederte sein Telefonpartner, und bemerkte langsam, auf was Ben hinaus wollte. „Außerdem hab ich gar nix mehr im Haus. Okay?“ Ben fühlte sich ertappt: „Ähm… ja… super, dann ist ja gut. Du, sollen wir heute abend noch was unternehmen, unseren Ermittlungserfolg feiern? Billard spielen, oder so?“ Kevin dachte kurz nach, und erstaunlicherweise sagte sein Kopf sofort zu. Er fühlte sich, von den Schmerzen abgesehen, plötzlich befreiter. War das nur dieser merkwürdige Traum? Die Geschichte gestern endlich mal komplett von A bis Z jemandem erzählt zu haben? Oder half es seiner Seele doch, dass Becker tot war. „Hmm, ja warum nicht? Okay. Holt ihr mich ab?“ Ben war auf der anderen Seite der Leitung angenehm überrascht über die schnelle Zusage seines Kollegen. Er hatte mit schlechter Laune, Müdigkeit und dahin eingehende Absage gerechnet, er hatte damit gerechnet dass Kevin sich weiter in sein Schneckenhaus verkriechen würde. Aber so freute er sich darauf, dass Kevin ihm und Semir Gesellschaft leisten würde. André hatte abgesagt, er hatte kurzfristig einen Flieger für morgen früh bekommen, und wollte noch die restlichen Sachen packen… er würde morgen früh noch kurz auf der Dienststelle vorbeikommen. „Wir sind so um 9 Uhr bei dir. Bis dann.“, antwortete der Kommissar in der Autobahndienststelle und legte auf.
Kevin legte das Handy beiseite, und ging mit langsamen Schritten ins Badezimmer. Den Drogenmix letzter Nacht hatte er fast verdaut, ein Vorteil wenn man allerlei Scheiß gewöhnt war. Er schaute in den Spiegel und sah in sein recht ramponiertes Gesicht. Ein Schnitt in der Unterlippe, ein Cut auf der Wange und eines über der rechten Augenbraue. Dazu eine rot-violette Schwellung am Unterkiefer. Nein, er sah nicht unbedingt gut aus, dachte er sich selbst als er sich auszog und unter die Dusche stellte. Aber etwas anderes war ihm aufgefallen… die dunklen Ränder unter seinen Augen waren verschwunden. Oder waren sie in dem violet-rot verziertem Gesicht nicht aufgefallen?
Auch sein restlicher Körper war übersät mit blauen Flecken, über die er nun lauwarmes Wasser laufen ließ. Doch irgendwie fühlte er sich nicht schlecht… zum ersten Mal nach langer Zeit. Er spürte nicht die Anspannung, nicht diesen Druck als würde Janine ihm über die Schulter schauen, um zu sehen dass er endlich ihren Mörder finden würde. Ihr unsichtbarer Geist drängte ihn nicht dazu, und gab ihm nicht dieses Gefühl, wieder versagt zu haben, wenn er ihn am Ende des Tages noch nicht gefunden hatte. Sein Leben fühlte sich ein wenig leichter an, ein bisschen zumindest.
Kevin stand bestimmt 20 Minuten unter dem lauwarmen Wasserstrahl, als er endlich aus der Duschkabine stieg. Er legte sich ein Handtuch um die Hüfte und begann sich abzutrocknen. Gedanken gingen dem jungen Polizisten durch den Kopf, Gedanken die er zum ersten Mal hatte… verdammt, war diese Bude ungemütlich, dachte er sich als er durch die offene Tür ins Wohnzimmer sah. Durch die Verbindungstür ging es ins Schlafzimmer, wo der Kommissar sich frische Kleider aus dem Schrank nahm. Eine hellblaue Jeans, die an einigen Stellen kaputt war, ein frisches weißes T-Shirt und seine schwarze Kapuzen-Weste. Die halbfeuchten abstehenden Haare wurden mit etwas Haargel endgültig unbändig gemacht.
Bevor ihn seine Kollegen abholten ging Kevin noch schnell in sein Schlafzimmer. Er kniete sich auf den Boden und klaubte die kleinen pinken Pillen wieder ins Röhrchen zusammen. Mit einem leisen Plop drückte er den Deckel drauf und war bereits auf dem Weg zum Mülleimer… doch ein Gefühl hielt ihn zurück. ‚Was, wenn er sie doch nochmal brauchen würde… was wenn der Dämon nochmal zurückkommt?` Kevin würde dann, ohne seine kleinen Hilfsmitteln kaputt gehen. Er stand über dem geöffneten Mülleimer und hätte nur noch die Hand öffnen müssen, dann wären die Pillen hineingefallen, doch etwas hielt ihn zurück.
Vor Kevins Wohnung – 20:50 Uhr
„Willst du nicht Kevin mal ein wenig Kapital überlassen, dass der sich mal ne anständige Wohnung leisten kann?“, witzelte Semir in Richtung seines, finanziell recht unabhängigen, Partners als er einen Blick auf die spärlich beleuchtete Plattenbausiedlung warf. „Ich glaube, Kevin braucht das ein bisschen.“, überlegte Ben laut während die beiden Autobahnpolizisten auf ihren Kollegen warteten. Auch Semir hatte sich gefreut, dass Kevin die Einladung heute abend annahm. Ihm war, abgesehen während des Gespräches mit André, die gruselige Szene im Keller nicht mehr aus dem Kopf gegangen… als Becker Kevins Kopf dicht an ihn heranzog, und zischend Kevin das Bild vor Augen malte, wie er gerade seine Schwester missbrauchte und bestialisch umbrachte. Semir hatte es schon mit vielen Verbrechern zu tun, Leuten, die grausige Taten begingen… aber er hatte es nie miterlebt, wie makaber ein Verbrecher mit einem Opfer, das Kevin in dem Falle war, umging. Ohne dem Kommissar körperliche Schmerzen zuzufügen war es wohl die schlimmste Folter, die er Kevin in diesem Moment antun konnte. Semir fühlte sich als Ältester der Truppe verantwortlich, mit seinem Kollegen darüber zu reden… vielleicht heute abend, wenn sie mal für einen Moment alleine waren. Ihm war es nicht bewusst, dass er von den dreien derjenige war, der eigentlich am wenigsten über Kevins Leben wusste. Ben wusste zumindest von Problemen, von dem seltsamen Brief, André wusste alles. „Wie meinst du das“, kam er nun dazu, auf Bens kurzen Satz zu reagieren. Der jüngere Kommissar musste kurz nachdenken, um nichts von seinem Geheimnis Kevin gegenüber preiszugeben. „Naja… ich denke einfach, Kevin ist nicht der Typ für irgendein Penthouse, oder so.“, meinte er grinsend. „Zwischen nem Penthouse und dieser Bruchbude wird’s ja noch nen Unterschied geben, oder?“ fragte Semir sarkastisch. Ben trommelte nervös auf dem Lenkrad herum, ihm brannte es ein wenig unter den Nägeln. Er hatte nicht gerne Geheimnisse vor Semir und auch ihm wäre es viel angenehmer, wenn Kevin auch seinen türkischen Kollegen in seine Geheimniswelt miteinbezog. Doch das sollte nicht das vordergründige Ziel des Abends sein. Sie wollten vor allem ein Auge auf Kevin haben, dass er keine Dummheiten machte… und Ben beruhigte sich etwas, als er den jungen Kommissar mit schnellen und dynamischen Schritten aus der Haustür in Richtung des Autos gehen sah.