Vernehmung 1
Alex und Ben saßen sich im Vernehmungszimmer gegenüber, jeder an einer langen Seite des Tisches. An der kurzen Seite hatte Paul Friedrich Platz genommen und schaute auf die Tischplatte. Ben begann mit den Personalien des Festgenommenen. „Sie heißen Paul Friedrich?“ – „Wenn Sie es sagen!“ – „Geboren am 20.10.1981 in Bonn, wohnhaft in Köln, Mühlenstr. 14?“ – „Sie lesen aus meinen Papieren vor? Dann wird es wohl stimmen“ – „Gut, dann kommen wir zum heutigen Tag. Sie befanden sich heute in einem VW Touareg mit dem amtlichen Kennzeichen BG HM 78 auf der Tankstelle Bedburger Land, ist das korrekt?“ – „Wenn Sie das sagen!“ – „Wer war noch mit Ihnen im Auto? Wer ist den Wagen gefahren?“ Paul schwieg. Ben legte nach: „Sie haben den Überfall beobachtet und dann einen Polizeibeamten und einen Augenzeugen verfolgt, gerammt und angegriffen!“ Paul schwieg wieder. „Beantworten Sie meine Frage!“ – „Ich habe keine Frage gehört“ – „OK, dann im Einzelnen: Waren Sie heute auf der Tankstelle Bedburger Land?“ – „Heißt die so? Wir waren an einer Tankstelle an der A 61, den Namen weiß ich nicht“ – Haben Sie die Tankstelle über den Wirtschaftsweg verlassen?“ – „Wir sind gefahren, ja, das ist doch wohl nicht verboten“ – „Wer ist ‚Wir‘?“, versuchte Ben jetzt den Namen zu erfahren. „Finden Sie es selber raus!“ – „Das werden wir! Versprochen!“
Alex übernahm jetzt die fragende Rolle: „Haben Sie den Wagen unseres Kollegen von der Straße gedrängt?“ Paul schwieg erneut. „Nachdem Sie den Wagen gerammt haben, haben Sie die Insassen mit Pfefferspray lahmgelegt und mit einem Revolver versucht, sie zu töten. Ist das richtig?“ Paul sagte nichts mehr.
Ben stand auf, öffnete die Tür und rief: „Siggi, Herr Friedrich bleibt noch eine Nacht unser Gast, bringst du ihn bitte weg!“ Siggi führte Paul zurück in die Zelle, und Ben nahm wieder Platz. „Wir machen morgen weiter, vielleicht ist er dann gesprächiger. Der Haftrichter wird ihn nicht laufen lassen. Mordversuch an einem Polizisten mit zwei Polizisten als Augenzeugen, das wiegt zu schwer“.
König Drosselbart
‚Was für ein Glück, dass solche Veranstaltungen nie pünktlich beginnen‘, dachte Semir und betrat die Aula durch die noch offen stehende Tür. Die Plätze waren schon gut gefüllt. Überall standen Gruppen von Eltern, Lehrern und Kindern.
Semir ließ seine Augen durch den Raum wandern und entdeckte Andrea und Lilly in der dritten Reihe, wo sie zwei Plätze in der Mitte der Sitzreihe ergattert hatten. Er zwängte sich an den Sitznachbarn vorbei, einige standen auch auf, begrüßte kurz einen Bekannten, dessen Tochter mit Ayda befreundet ist und erreichte endlich seine Familie.
Semir begrüßte Andrea mit einem Kuss, ging vor seiner Tochter in die Knie, nahm sie auf den Arm setzte sich auf den jetzt freien Platz und nahm Lilly auf den Schoß. „Was ist passiert?“, lautete die erste Frage von Andrea, als sie das Pflaster in seinem Gesicht und den mittlerweile deutlich blauen Fleck nebst Beule entdeckte. „Nichts weiter, alles gut“, wiegelte er ab. „Hat Papa Aua?“, fragte jetzt auch Lilly. „Nein, da ist doch ein Pflaster drauf, dann tut es doch nicht mehr weh.“ Einzelheiten zu dem Vorfall am Morgen und insbesondere der knapp verhinderte Angriff auf sein Leben, würde er später Andrea in Ruhe erzählen. „Wie ist dein neuer Partner?“, erkundigte sich jetzt Andrea. Gelegenheit, eine Antwort zu geben, bekam Semir nicht, denn das Licht wurde gedimmt und die Direktorin der Schule trat vor den Vorhang, um das Publikum willkommen zu heißen. „Später“, flüsterte er deshalb nur und schaute nach vorne zur Bühne.
Nachdem die Schulleiterin die Anwesenden begrüßt, das Engagement freiwilliger Helfer, zum großen Teil aus der Elternschaft, hervorgehoben hatte und kurz auf das Programm und dessen Vorbereitung eingegangen war, begann die Schulaufführung mit dem Schulorchester und dem Chor. Da Ayda das Gesangstalent ihres Vaters geerbt hat, gehörte sie dem Schulchor nicht an, sondern nahm an einer kindgerechten Inszenierung des Märchens „König Drosselbart“ teil. Hier hatte sie sogar die Hauptrolle der Königstochter ergattert.
Als Lilly ihre Schwester auf der Bühne erkannte, rief sie: „Da Ayda!“ und zeigte mit ihrem Finger auf die Königstochter. Die Reaktion der 3-Jährigen ließ die Zuschauer in ihrer Umgebung kurz auflachen und wurde auch auf der Bühne gehört. Ayda schaute kurz zu ihr hin, stellte zufrieden die Anwesenheit ihres Vaters fest, dessen Ankunft sie nicht mitbekommen hatte, weil sie schon hinter der Bühne beim Umziehen und Schminken war. Die Schwestern lächelten sich an. Dann konzentrierte sich Ayda aber wieder auf das Spiel, und es wurde eine schöne Aufführung.
Semir ergriff die Hand seiner Frau und lächelte sie an. Er war stolz auf Ayda und fühlte sich endlich mal wieder nur als Vater und Ehemann. Für zwei Stunden konnte er vergessen, dass er heute nur mit Hilfe von Alex und Ben in letzter Sekunde mit dem Leben davon gekommen war.
Nach Abschluss der Aufführungen, nach dem Märchen kamen noch Artisten, Jongleure und Tänzer, gab es tosenden und lang anhaltenden Applaus. Dann waren Semir und Andrea mit ihren Kindern alleine an einem Tisch in der Schulhalle, wo es noch einen kleinen Imbiss für alle gab. Jetzt fand Semir den richtigen Zeitpunkt für gekommen, holte das kleine Geschenk aus seiner Jacke und überreichte es Ayda mit den Worten: „Das hast du heute so großartig gemacht, und wir finden deine Premiere als Schauspielerin ist schon ein kleines Geschenk wert. Los, pack aus.“ Das ließ Ayda sich nicht zweimal sagen und öffnete das unerwartete Geschenk. In einem kleinen Kasten befand sich eine Lederkette mit einem silbernen Anhänger, einer Platte in Schmetterlingsform, in der ihr Nameeingraviert war und zwei kleine Kristalle eingelassen waren. Sie freute sich sehr und fiel ihrem Vater strahlend um den Hals. „Und was ist mit mir?“, spielte Andrea die Beleidigte und erntete von Ayda eine ebenso stürmische Umarmung. Sie ließ sich die Kette gleich von ihrer Mutter um den Hals legen.
„Wie ist denn nun dein neuer Partner“, wiederholte Andrea ihre Frage vom Nachmittag während der Autofahrt nach Hause. Semir versicherte sich zunächst, dass die Kinder auf der Rücksitzbank mit sich beschäftigt waren und antwortete dann leise: „Er hat mir heute das Leben gerettet, noch bevor er sich vorstellen konnte.“ Andrea war sprachlos und sah ihrem Mann in die Augen, als sie verkehrsbedingt anhalten musste. „Im Ernst, Andrea, wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt nicht hier.“
Andrea brauchte noch einen Augenblick, um Semirs Worte zu begreifen, dann sagte sie: „Ich glaube, ich brauche ihn gar nicht mehr kennen zu lernen, dein neuer Partner gefällt mir schon jetzt.“
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