Der Arzt sah sich Irina an, konnte aber auf den ersten Blick keine schwerwiegenden Verletzungen feststellen. Sie war zwar äußerlich gezeichnet, aber es sah nicht so aus, als hätte sie irgendwelche inneren Blessuren. Auch für eine Hirnblutung oder ähnliches bestand kein Anhalt und so beschlossen Sarah und der junge Assistenzarzt, Irina erst einmal ein wenig schlafen zu lassen, denn ihr fielen schon die Augen zu und Sarah hatte vor, nun Ben Bescheid zu geben, welch merkwürdigen Besuch sie heute bekommen hatten. Als sie in ihre Tasche fasste, stellte sie fest, dass sie ihr Handy in der Wohnung beim Laden liegen hatte. Nach einem Blick auf die Uhr konstatierte sie, dass sie gerade vor der Spätschicht noch Zeit haben würde, zurück zur Wohnung zu fahren, eine Kleinigkeit zu essen, Ben Bescheid zu geben und dann zum Dienst zu erscheinen. Sie stellte Irina eine Flasche Wasser und eine Packung Kekse, die sie mal für Ben gekauft hatte, nebens Bett und legte einen Zettel mit der Telefonnummer der Intensivstation, auf der sie arbeitete, hin. Darauf schrieb sie, dass sie abends wieder nach ihr schauen würde und Irina sich melden sollte, wenn sie Hilfe brauchte.
Dann machte sie sich auf den Weg zurück zu Ben`s Wohnung und dachte die ganze Zeit darüber nach, was das Ganze wohl zu bedeuten hatte und an welchem Fall Ben gerade arbeitete. Irgendwas hatte das mit diesem merkwürdigen Kunstwerk zu tun und sie meinte fast behaupten zu können, dass wohl Bens Verletzungen neulich auch in Zusammenhang mit dieser Geschichte standen, denn seitdem war der wie besessen vom Neumarkt, den er sonst eher beiläufig mal besucht hatte, aber jetzt ständig.
Der Verkehr lief leider nicht so gut, wie sie erwartet hatte und so würde die Zeit gerade noch reichen, sich ein Brot zu machen und dann wieder zurück zum Krankenhaus zu fahren, dabei hatte sie doch vorgehabt, etwas zu kochen, was sich Ben abends aufwärmen konnte, denn sonst würde der wieder zur beliebten Tiefkühlpizza greifen und sie wollte doch, dass er sich gesund ernährte, damit er fit blieb und mit ihr alt werden konnte.
Mein Gott, wie hatte der ihr den Kopf verdreht! Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, als er als Patient auf ihrer Station lag, war sie wie vom Donner gerührt gewesen. Ihre Blicke hatten sich getroffen und jeder hatte gewusst, dass das keine zufällige, beiläufige Begegnung war. Da hatte das Schicksal seine Hand im Spiel gehabt und seit diesem ominösen Tag waren sie noch keinen Tag ohne einander gewesen. Anscheinend gab es sowas-Liebe auf den ersten Blick, sich sehen und wissen: Das ist er!
Inzwischen war sie an der Wohnung angekommen. Nach einem Blick auf die Uhr stellte sie das Auto im eingeschränkten Halteverbot vor dem Haus ab, um Zeit zu sparen. Wenn sie jetzt in die Tiefgarage fahren würde, würde sie das nochmals ein paar Minuten kosten und sie wollte auf gar keinen Fall zu spät zum Dienst kommen! Sie lief die Treppen hinauf, schloss die Tür auf und blieb stehen, wie vom Donner gerührt! Was war denn da passiert? Ben´s Behausung sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, aber noch bevor sie ihre Gedanken ordnen konnte, umfassten sie zwei Arme von hinten, hielten ihr den Mund zu und zerrten sie vollends in die Wohnung. „Ja wen haben wir denn da?“, sagte eine Stimme und als sie in die Richtung sah, aus der die kam, stand dort dieser elegante Mann, der der Begleiter Irina´s auf der Eröffnung am Neumarkt gewesen war. Er trat nahe an sie heran und sagte drohend: „Ich glaube, sie können mir sagen, wo sich meinen Freundin aufhält. Ich weiß, sie hat ein kleines Problem, aber das werde ich mit ihr persönlich klären. Sagen sie mir nur, wo sie ist, dann vergessen wir die Sache!“ aber Sarah war klar, dass das so nicht laufen würde. Wenn er Irina fand, würde er sie vielleicht umbringen, also sie würde die junge Frau mit Sicherheit nicht verraten!
„Ich habe keine Ahnung, wovon sie sprechen!“ behauptete sie tapfer, aber Sharpov lachte nur trocken auf und hielt ein kleines Täschchen hoch, das wohl Irina gehörte. „Wie merkwürdig! Wie das dann wohl in ihre Wohnung gekommen ist? Diese Tasche habe ich ihr persönlich geschenkt, versuchen sie mich nicht für dumm zu verkaufen!“ sagte er einen Ton schärfer. „Aber keine Angst, ich werde sie schon zum Reden bringen, ich habe da so meine Methoden!“ sagte er und machte eine kleine Kopfbewegung zu dem Mann, der Sarah festhielt. Bevor sie irgendetwas sagen konnte, hatte der fest auf einen Punkt an ihrem Hals gedrückt und ehe sie sich versah, verlor sie langsam das Bewusstsein. Sharpov und seine zwei Begleiter packten Sarah und trugen sie die Treppe hinunter. Direkt vor der Haustür hielt Sekunden später ein dunkelblauer Kombi und Sarah wurde völlig unauffällig in den Fond gepackt. Sie wurde professionell gefesselt und geknebelt und als sie langsam wieder zu sich kam, lag sie halb auf der Rücksitzbank, rechts und links neben sich einen Schrank von Mann und das Fahrzeug hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Durch die verdunkelten Scheiben konnte niemand einen Blick ins Innere werfen und so fuhr der Kombi mit unbekanntem Ziel davon.