Die Überwachungsmonitore im Hubschrauber zeigten bei Ben einen sehr niedrigen Blutdruck und einen rasend schnellen Herzschlag an, als Zeichen eines Volumenmangelschocks. Der Transport im Hubschrauber ging zwar schnell, aber trotzdem atmete der Notarzt erleichtert auf, als sie sich im Landeanflug auf das hellerleuchtete Klinikdach befanden. Die Problematik im Hubschrauber war ja immer, dass man außer mit Medikamenten durch die Enge an den Patienten eigentlich nicht rankam. Wenn es ein Problem gab und der Transportierte zum Beispiel reanimationspflichtig wurde, dann musste man sofort landen, weil eine mechanische Reanimation während des Flugs nicht möglich war. Außerdem besagten die Vorschriften eigentlich, dass für den Nachtflug zwei Piloten notwendig waren-da hatte der Fluggeräteführer für diesen Einsatz nochmal so getan, als wäre es noch dämmrig gewesen, aber jetzt mussten sie nach der Übergabe sofort zurück in den Hangar.
Während der Rotor langsam zum Stillstand kam, öffnete der Rettungsassistent schon die Tür und sprang hinaus, um die Trage von außen herauszuziehen. Das Team aus der Notaufnahme, das ja telefonisch instruiert war, stand schon mit behandschuhten Händen bereit. Man schob die Trage zügig in den Fahrstuhl und fuhr in die OP-Abteilung, wo die Schleuse extra freigehalten worden war. Nebenbei machte der Hubschraubernotarzt noch direkt die Übergabe an den Notaufnahmearzt, der währenddessen den leichenblassen Patienten, dessen Kleidung voller Blut war, besorgt musterte. Es würde nicht mehr lange dauern und er wäre reanimationspflichtig, so wie er aussah. Der brauchte dringend Konserven und man musste jetzt noch schnell versuchen, ihm Blut abzunehmen, damit man wusste, wo man eigentlich stand und Kreuzblut gewinnen konnte.
In der Schleuse angekommen machte man die Transportfixierungen auf und begann, Ben komplett auszuziehen, vielmehr, ihm die blutigen Kleider vom Leib zu schneiden. Als das geschehen war, sah man, dass sein ganzer Körper mit einem feinen kalten Schweißfilm überzogen war. Die peripheren Venen waren alle durch den Volumenmangel kollabiert und der Notarzt dankte Gott, dass wenigstens der Zugang am Hals lief, durch den man weiterhin die Infusion im Schuss hineinlaufen ließ. Noch auf der Trage desinfizierte der Notaufnahmearzt die Leiste und stach mit einer Nadel direkt in die Femoralarterie und entnahm dort routiniert einige Röhrchen Blut, die von einer Hilfskraft sofort ins Labor gebracht wurde. 10 Konserven wurden nach der Blutgruppenbestimmung zum Einkreuzen angefordert, aber so lange würde man nicht mehr warten können, da augenscheinlich die Sauerstoffträger so gering waren, dass man sofort Fremdblut geben musste, um Ben´s Leben zu retten. Einige Konserven null negativ, also Universalspenderblut standen schon bereit. Allerdings hatte nun der Notaufnahmearzt die relativ frisch verheilte OP-Wunde auf Ben´s Bauch entdeckt und bat die Schleusenschwester doch mal Ben´s Namen und Geburtsdatum, das der Rettungsassistent auf dem Notarztprotokoll notiert hatte, in den PC einzugeben. Vielleicht hatten sie ja Glück und er war in diesem Krankenhaus operiert worden und es gab damit eine Akte über ihn.
Während Ben nun vorsichtig auf das Schleusenfließband gedreht wurde, meldete die Schwester einen Treffer und innerhalb kürzester Zeit hatte man seine Vordiagnosen und vor allem die Blutgruppe eruiert. Man forderte, während Ben nun weiter auf den OP-Tisch gefahren wurde, bereits Konserven in seiner Blutgruppe A Positiv an und der leitende Chirurg stand mit verschränkten Händen, damit er sich nicht unsteril machte, ein paar Meter daneben und ließ sich nochmals persönlich vom Notarzt die Form und die Eindringtiefe des Betonstücks schildern. „Das war ein konisches Stück Beton, dass von einer eigentlich relativ scharfen Spitze dann bis auf etwa 30 cm Durchmesser breit wurde, zumindest steckte es so weit im Patienten. Ich konnte unmittelbar unter der Haut vorne die Spitze tasten!“ erzählte der Notarzt. „Wir haben an zwei spritzende Lebergefäße zwei Klemmen gesetzt und dann ein Packing gemacht.“ Beim Herüberfahren hatte man erkennen können, dass die vormals grünen Bauchtücher schon wieder völlig durchweicht waren und auch auf der Trage war die Unterlage voller Blut. Der Hubschraubernotarzt mochte gar nicht daran denken, wieviel Prozent seines Eigenbluts sein Patient wohl schon verloren hatte.
Der diensthabende Anästhesist hatte nun das Beatmungsgerät des Hubschraubers inzwischen gegen sein eigenes Transportbeatmungsgerät getauscht und es auch gleich auf 100% Sauerstoff gestellt. Man musste den wenigen Sauerstoffträgern, die dem jungen Mann noch verblieben waren, soviel wie möglich anbieten, damit wenigstens das Gehirn versorgt wurde. Alle anderen Organe waren zwar auch hochgradig gefährdet, aber da hatte man wenigstens einen kleinen zeitlichen Puffer. Er erfuhr nun, welche Medikamente sein Patient bisher erhalten hatte und bei der Schilderung der Rettungsaktion ohne ausreichende Analgesie, zog sich auch sein Herz vor Mitleid zusammen. Da hatte der Polizist ordentlich was mitgemacht, aber jetzt war er zwar nur schwach sediert, weil das ja immer auf den Blutdruck ging, aber immerhin hatte er ausreichend Opiate erhalten, so dass er keine Schmerzen mehr spüren dürfte. Bevor man ihn umdrehte, sprang noch schnell ein OP-Pfleger hinzu und legte in Windeseile einen Blasendauerkatheter, um wenigstens das erledigt zu haben und auch da lief nun leicht blutiger Urin in den Beutel. Allerdings würde man sich zuerst der vordringlichsten Blutstillung widmen und sich später um die Ursache dafür kümmern.
„Beim Absaugen kam auch Blut aus den Bronchien und direkt nach dem Sturz hat Herr Jäger auch mehrmals ein wenig Blut hochgehustet. Ich tippe auf eine Lungenkontusion!“ teilte der Hubschraubernotarzt mit und der Anästhesist, der daraufhin noch kurz die Lunge abhörte, stöhnte innerlich auf. Noch eine weitere Baustelle! Das würde schwer werden, den jungen Mann wieder hinzukriegen. Gut, er sah eigentlich ziemlich fit aus, vielleicht hatte er ja eine Chance, aber sie konnten einfach nicht mehr tun, als ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen und alles Weitere würde nicht in ihrer Hand liegen.
Inzwischen hatte man Ben gleich von der Schleuse bäuchlings auf den mit einer warmen Gelauflage bedeckten OP-Tisch gedreht und dort mit einem ringförmigen Polster unter dem Kopf, damit der Tubus freiblieb, die Arme nach oben, festgemacht. Auch eine angewärmte OP-Decke hatte man über ihn gebreitet. Während der Anästhesist und der Rest des OP-Teams mit dem Tisch auf einer Lafette in den Saal fuhr, blieb der Hubschraubernotarzt mit seinem Rettungsassistenten, der die Trage von den blutigen Auflagen befreite und alles mit Desinfektionslösung abwischte, noch einen kurzen Moment in der Schleuse stehen. Er wünschte dem jungen Mann alles Gute, aber er hatte starke Zweifel, ob der das überleben würde und wenn ja, mit welchen Folgeschäden. Er ließ sein eigenes Tun nochmals vor seinem inneren Auge Revue passieren, aber er konnte keinen Fehler entdecken. Er hatte nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und nun konnte man nur noch hoffen und beten. Während der Notarzt und der Sanitäter nun langsam zum Hubschrauber gingen, um den letzten Einsatz des heutigen Tages abzuschließen, hing jeder seinen Gedanken nach. Als sie in den Aufzug stiegen, begann nun im OP der weitere Kampf um Ben´s Leben-mit ungewissem Ausgang.