Am Flughafen war inzwischen der erste Notarzt am Flugzeug eingetroffen. Obwohl scharfe Kanten, die auch mit Blut verschmiert waren, den Weg nach oben säumten, hätte niemand von den Rettungskräften verlangt, sich selber in Gefahr zu bringen und deshalb wurde auch gerade die fahrbare Gangway herangekarrt. Wenn ein gefahrloser Einstieg ins Flugzeugwrack möglich war, würden die bereitstehenden Rettungskräfte ihren Dienst tun, aber dieser engagierte Notarzt, der nebenbei Bergretter war, hatte intuitiv das Gefühl, dass nicht mehr so viel Zeit war. Er hatte den Eid des Hippokrates geschworen und würde versuchen, Leben zu retten, wenn es ihm irgendwie möglich war.
Deshalb zog er sich, als er die scharfen Metallkanten sah, die Pulloverärmel über die Hände und erklomm so, wie kurz zuvor Andrea, die Wrackteile und betrat dann das Flugzeug. Mit routiniertem Blick erfasste er die Situation. Der vorderste Mann hatte eine Schussverletzung, die aber nicht lebensbedrohlich war, außerdem fluchte er auf russisch vor sich hin, also konnte es schon nicht so dramatisch sein, da waren die anderen Flugzeuginsassen schon schlimmer dran. Sieben tief bewusstlose Männer lagen am Boden. Bei allen changierte die Hautfarbe ins Bläuliche. Einige hatten erbrochen und er befürchtete schwer, dass sie demzufolge auch aspiriert hatten, da war dringend professionelle Hilfe nötig.
Am Schlimmsten anzusehen war aber die Geisel, die halb im Sitzen in sich zusammengesackt war und jetzt von der Ehefrau reanimiert wurde. Der Brustkorb war blutverschmiert, er befürchtete, dass die einen Schuss abgekriegt hatte, oder anderweitig auch noch verletzt war. Deshalb entschloss er sich innerhalb von Sekunden, seine Hilfe der Geisel zukommen zu lassen, nicht den anderen Männern. Ihn hatte es zwar nicht zu interessieren, welche Patienten er behandelte und es sollte ihm auch egal sein. Als leitender Notarzt hatte man die Verletzten nach medizinischer Dringlichkeit und nicht nach anderen Kriterien einzustufen, aber anscheinend war der sitzende Mann am Schwersten verletzt. Mit zwei Schritten war er deshalb bei seinem neuen Patienten, öffnete seinen Notfallrucksack, den er wohlweislich auf seinem Rücken mitgenommen hatte und schnitt als erstes mit einer Verbandschere die Kabelbinder auf, so dass man Semir wenigstens am Boden ablegen konnte. Es war zwar eng im Flugzeug, aber so viel Platz war frei. Er bedachte Andrea, die ihn völlig panisch ansah, mit einem beruhigenden Lächeln und sagte im Brustton der Überzeugung, obwohl er sich da keineswegs sicher war: „Das kriegen wir schon!“ und begann dann seinen Patienten kurz durchzuuntersuchen.
Überrascht stellte er keinerlei äußere Verletzungen fest, aber wo kam dann das Blut her? Als allerdings sein Blick nun auf die Hände der Frau fiel, war ihm klar, wo es herkam. Sie hatte massive, stark blutende Schnittverletzungen an beiden Händen-ah, von ihr kam dann auch das Blut draußen vor dem Einstieg. Gut, darum würde er sich später kümmern! Momentan hatte er kein Monitoring zur Verfügung, daher musste er jetzt auch auf seine fünf Sinne vertrauen und als er die Vitalzeichen prüfte, konnte er keine Eigenatmung feststellen und nur noch einen extrem verlangsamten Herzschlag. Jetzt musste es aber schnell gehen! Er zog sein Intubationsbesteck aus dem Koffer und bedeutete Andrea zur Seite zu gehen. Die tat das schluchzend und der Notarzt kauerte sich hinter Semir´s Kopf auf den Boden, überstreckte diesen und intubierte ihn routiniert. Er blockte den Tubus, hängte einen Ambubeutel daran und kontrollierte mit dem Stethoskop noch die Tubuslage. Gut, die Atemwege waren gesichert. Obwohl ihm Andrea sehr leid tat, denn ihre Hände mussten sicher fürchterlich schmerzen, bat er sie darum, nun den Ambubeutel zu übernehmen und zeigte ihr, wie sie ihn drücken sollte. Als er nochmals das Herz abhörte konnte er feststellen, dass die Frequenz wieder im Ansteigen war.
Von draußen war das Kreischen von zerschnittenem Metall zu hören. Um einen gefahrlosen Zugang für die Retter zu schaffen, flexten die Polizisten und Flughafenmitarbeiter die Wrackteile soweit ab, dass man die fahrbare Gangway befestigen konnte. Der Notarzt im Inneren der Maschine ging nun als Erste Hilfe-Maßnahme bis Verstärkung von außen kam, von einem zum anderen Bewusstlosen und brachte den wenigstens in stabile Seitenlage. Manche zeigten noch ein wenig Eigenatmung, aber einige waren als klinisch tot zu bezeichnen. Den Mediziner schauderte es. Diese Geiselbefreiung würde mehr als ein Todesopfer kosten, da war er sich sicher!
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Einstieg frei wurde und der Notarzt atmete erleichtert auf, als endlich ein paar seiner Kollegen ins Flugzeug strömten. Der Pilot wurde von zwei SEK-Männern grob auf die Füße gezogen und als Erster hinaus geschafft, um den Platz freizumachen. Während sich draußen ein Notarzt seine Verletzung ansah und ihn als minderschweren Fall, der später versorgt werden konnte, einstufte, wurde er von zwei drohend blickenden SEK-Leuten mit der Waffe im Anschlag in Schach gehalten. Wenn dieser Schwachkopf nicht gewesen wäre, wäre diese Geiselnahme ohne Verletzte zu Ende gebracht worden, aber so war ein Desaster daraus geworden!
Die erste Trage wurde ins Flugzeug gebracht und man hievte Semir vorsichtig darauf und brachte ihn nach draußen. Ein Rettungssanitäter hatte den Ambubeutel übernommen und auch tragbaren Sauerstoff mitgebracht. Er trug wie alle Ersthelfer Handschuhe und das war auch gut so, denn der ganze Beatmungsbeutel war inzwischen blutig. Man schob die Trage in den ersten Rettungswagen und der Notarzt, der ihn intubiert und inzwischen seinen Kollegen im Flugzeug kurze Übergabe gemacht hatte, kletterte ihm nach, um ihn weiter zu versorgen. Man hatte eine Decke über Andreas Schultern gebreitet und führte sie vorsichtig hinaus, wo sie von der Chefin, Jenni und Dieter in Empfang genommen wurde. Provisorisch schlang man zwei sterile Verbandtücher um ihre Hände und als Dieter sie nun vorsichtig in die Arme nahm, brach sie schluchzend zusammen. „Er darf nicht sterben!“ weinte sie und alle versuchten sie zu trösten, obwohl noch keiner sagen konnte, ob es überhaupt Überlebende geben würde.
Im Krankenhaus hatte die Nachtschwester inzwischen den Fernseher ausgeschaltet. Weder ihrem Patienten, noch ihrer Kollegin taten die Bilder gut und sie konnten sowieso nichts ausrichten. Sarah´s Weinen war inzwischen verstummt und ihr Kopf ruhte nun ganz nah bei Ben. Sie konnte ihn riechen und fühlen und wenn die Lage auch immer noch kritisch war, hatte er reelle Chancen, das Ganze zu überstehen. Er war inzwischen gut sediert und bekam, von außen her zu beurteilen, nichts mehr mit. Wie das allerdings tatsächlich aussah, konnte niemand beantworten, denn man wusste, dass das Bewusstsein eigentlich nie völlig erlosch und zumindest Gefühlsregungen von sedierten Patienten immer wahrgenommen wurden. Langsam beruhigte sich Sarah und während 18 km entfernt am Flughafen der Kampf um Überlebende aufgenommen wurde, saugte man Ben nochmals ab, drehte ihn auf die andere Seite und kontrollierte erneut die Blutgase und das Blutbild. In den Drainagen war weiter nichts nachgelaufen und so hoffte man, dass er sich zügig erholen würde. Sarah legte sich nun doch wieder auf ihr provisorisches Bett und versuchte wenigstens ein bisschen auszuruhen. Sie hatte es so nahe neben das Patientenbett geschoben und auf die gleiche Höhe gebracht, dass sie ganz eng zu ihrem Freund rutschen und ihn berühren konnte. Mit seiner tröstenden Nähe kam sie nun ganz gut runter und döste nun doch wieder vor sich hin. Die Nachtschwester hätte zwar eigentlich aus hygienischen Gründen protestieren müssen, aber sie hielt wohlweislich ihren Mund. Die beiden taten sich gut und so musste man einfach Prioritäten setzen.
Im Stationszimmer lief das Lokalradio und so waren die Intensivmitarbeiter immer auf dem Laufenden, was die Geiselnahme anbetraf. Als die ersten Voranmeldungen wegen Intensivbetten kamen, war ihnen klar, dass dieser Fall sie alle miteinander noch eine Weile beschäftigen würde.