Vielleicht lag es am anderen Narkosemittel, oder auch an Sarah´s und Semir´s Gegenwart, die Ben sehr wohl wahrnahm, aber er tauchte langsam aus dem wirren Meer seiner Träume und Gedanken in die Realität. Eine halbe Stunde, nachdem Sarah die Sedierung reduziert hatte und sich wieder entspannt auf den bequemen Stuhl neben seinem Bett gesetzt hatte und sanft seine festgebundene Hand streichelte, schlug Ben zum ersten Mal die Augen auf. Sarah erhob sich, beugte sich ein wenig über ihn, damit er sie sehen konnte und lächelte ihn liebevoll an. Ruhig sagte sie: „Hallo Schatz! Es ist alles in Ordnung, schlaf noch ein bisschen und ruh dich aus!“ Ben musterte sie ein Weilchen, währenddessen man erkennen konnte, wie es in seinem Kopf arbeitete, dann versuchte er etwas zu sagen und bemerkte erneut den lästigen Tubus. Nachdem immer noch der Doppellumentubus lag, der aber nur noch an einer Stelle geblockt war und gleichzeitig beide Lungenhälften belüftete, war der sogar noch ein wenig dicker, als der, den Ben selber entfernt hatte. Aber mit Sarah´s gutem Zureden schaffte Ben es, den Schlauch zu akzeptieren und glitt wieder in einen leichten Schlaf.
Auch Semir hatte den Kopf zu seinem Freund gewandt und zwar erschöpft, aber doch mit Interesse beobachtet, dass Ben anscheinend keinen Stress hatte. Auch sein Blutdruck und Puls waren nur unmerklich angestiegen und so dämmerte auch Semir wieder in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen und alles blieb ruhig. Semir´s Blutgase hatten sich nicht verschlechtert und als abends Andrea nochmals vorbeisah und ein Weilchen an seinem Bett saß, bedeutete er Sarah, die Maske kurz zu entfernen, was sie auch sofort machte. Obwohl es ihm mit der Sauerstoffbrille sichtlich Mühe bereitete zu atmen, fragte er seine Frau: „Schatz, wie geht´s dir-und wie geht´s den Kindern?“ Andrea lächelte ihn an. „Mir geht´s ganz gut, ich nehme halt die Schmerzmittel, die sie mir geben, sonst würde es schon noch ziehen, aber der Arzt hat vorhin nochmals bestätigt, dass ich morgen die Drainagen rauskriege und danach entlassen werde. Meine Mutter holt mich ab und die Mädels sind guter Dinge, weil die Oma da ist!“ „Na Gott sei Dank!“ sagte Semir rau und bat Sarah noch um einen kleinen Schluck zu trinken, was sie ihm auch mit dem Schnabelbecher eingab. Danach war es allerdings wieder dringend notwendig die Maske aufzusetzen, aber Semir hatte sich inzwischen daran gewöhnt und konnte auch darunter ganz gut ausruhen. Langsam begann auch Sarah zu hoffen, dass man um eine Intubation bei ihm herumkommen würde.
Sie brachte Andrea zurück auf die Station, um sich auch ein wenig die Füße zu vertreten. Ihre Kollegen hatten Pizza bestellt und holten sie danach ins Stationszimmer, so dass sie wenigstens etwas im Magen hatte-bisher hatte sie sich überwiegend von Kaffee und Cola ernährt.
Frisch gestärkt machte sie mit ihrer Kollegin die beiden Patienten noch für die Nacht fertig und dann streckte sie sich selber im Zimmer auf dem flachgestellten Mobilisationsstuhl, eng neben Ben aus. Obwohl sie es nicht für möglich gehalten hätte, war sie in Kürze eingeschlafen und als die Nachtschwester zur ersten Runde ins Zimmer kam, fand sie drei friedlich schlafende Menschen vor und verließ auf Zehenspitzen wieder den Raum.
Die Sharpova hatte derweil im fernen Almaty alles vorbereitet, oder vielmehr vorbereiten lassen. Sie war eine Russin aus reichem Hause und hatte bereits viel Geld mit in die Ehe gebracht. Sie wurde von ihren Bekannten und Freunden erst geschnitten, als sie vor über zwanzig Jahren den Deutsch-Russen Sharpov geheiratet hatte. Man blieb in den ethnischen Gruppierungen normalerweise unter sich und die Deutschen waren im damaligen Zentralrussland nicht sonderlich angesehen. Auch nach der Aufspaltung in eigenständige Staaten war das nicht anders gewesen. Sharpov allerdings hatte seinen Sonderstatus genutzt und war nach Deutschland gegangen, um dort sein Glück zu machen und als der Rubel dann nur so rollte, konnten merkwürdigerweise dann auch die alten Bekannten etwas mit der Beziehung der beiden anfangen. Schade war nur, dass er immer so wenig Zeit gehabt hatte, aber man musste verstehen, die Firma ging einfach vor, wie er ihr immer erklärt hatte. Sie hatten früher täglich telefoniert und seitdem das Internet überall alltäglich geworden war, hatten sie geskyped und waren sich dadurch immer nahe geblieben. Waldemar hatte ihr versichert, ihr immer treu geblieben zu sein und sie hatte ihr Glück kaum fassen können, als er ihr erklärt hatte, dass er einen Käufer in Deutschland für ihre Firma gefunden hatte und nun endgültig zu ihr und den Kindern zurückkommen würde.
Sie konnte gar nicht glauben, was die Schwester am Telefon zu ihr gesagt hatte-das konnte einfach nicht wahr sein, dass sie ihren geliebten Mann verlieren sollte. Aber was wusste eine Krankenschwester schon? Die im Krankenhaus ahnten vermutlich nicht, wie reich sie waren. Sie würde ihm die besten Ärzte kaufen, ihn in eine Spezialklinik verlegen lassen und dann würde er schon wieder gesund werden. Daher hatte sie den Sekretär auch angewiesen mitzufliegen, damit der in Deutschland auch alles organisieren konnte. Nach einer kurzen Nacht standen sie früh auf und machten sich auf den fünfstundigen Direktflug mit einer Linienmaschine nach Düsseldorf.