Freitag, 01:00 Besuch
Semir war wieder einmal auf dem Sofa eingeschlafen und hatte den halben Fernsehfilm verpasst. Nicht dass es schade um den Film gewesen wäre, aber die Zeit hätte er auch und viel besser in seinem Bett bei Andrea verbringen können. Seine Frau war schon vor zwei Stunden schlafen gegangen. Er schaltete den Fernseher aus und wollte sich gerade zur Treppe nach oben umdrehen, als es an der Tür klingelte.
Semirs Uhr zeigte kurz nach ein Uhr an. ‚Wer kommt denn jetzt noch um diese Zeit?‘, dachte er auf dem Weg zur Eingangstür und öffnete sie. Auf dem Treppenabsatz stand sein Bruder Kemal. „Kemal?“, fragte er verwundert, „was machst du denn hier?“ Sie hatten sich seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen, und jetzt stand er mitten in der Nacht vor seiner Tür. Semir war so erstaunt, dass er einige Augenblicke in der Tür stehen blieb und seinen Bruder anstarrte.
„Semir, du musst mir helfen.“ Kemal schaute sich nervös um, er befürchtete, jemand hätte ihn doch verfolgen können und würde nun seinen Besuch beobachten, „ich habe Mist gebaut.“ Semir trat zur Seite. „Komm erst mal rein!“ Er ließ Kemal ins Wohnzimmer. „Möchtest du was trinken? Setz dich“ – „Danke, ein Wasser vielleicht.“ Semir ging in die Küche und fragte von dort: „Wie geht es deiner Frau und meinem Neffen?“ – „Halime ist mit Kerim in der Türkei bei ihren Eltern, deshalb kann ich mit dir sprechen, dort sind sie sicher.“
Nachdem er zwei Gläser mit Mineralwasser gefüllt hatte, ging Semir zu ihm zurück ins Wohnzimmer. „Hier“, er überreichte seinem Bruder ein Glas und setzte sich zu ihm auf das Sofa. „Was meinst du mit ‚dort sind sie sicher‘? Bedroht euch jemand?“ – „Ja, das kann man wohl so sagen, und es ist alles meine Schuld, Semir, ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll.“ – „Beginne doch einfach damit, mir alles zu erzählen.“ Er war schon sehr gespannt, welchen wichtigen Mist Kemal gebaut hatte, dass er deshalb ausgerechnet zu ihm gekommen war und noch dazu um diese Uhrzeit.
Und Kemal begann zu reden:
„Es begann vor zwei Jahren. Ich brauchte dringend Geld, das Geschäft lief nicht so gut, das Fenster war undicht, die Heizung hatte schlapp gemacht, eine Maschine musste ausgetauscht werden und noch so einiges. Die Bank wollte mir keinen Kredit mehr geben. Ich hatte keine Sicherheiten und meine Kreditwürdigkeit war herabgesetzt durch einen Schufa-Eintrag.“
„Warum warst du nicht kreditwürdig?“, fragte Semir nach und bekam jetzt die Geschichte seines Neffen präsentiert, die ihn etwas an seine eigene Jugend erinnerte. Kerim hatte mit einem Kumpel einen teuren Wagen geknackt und auf einer Spazierfahrt zu Schrott gefahren.
„Er ist quasi in die Fußstapfen seines Onkels getreten“, bemerkte Kemal. „Mit dem einen Unterschied, “, antwortete Semir, „dass er sich hat erwischen lassen“, lautete seine Reaktion darauf. Unter anderen Umständen hätten sie darüber gelacht, aber Kemal blieb sehr ernst. Er und der Vater des Freundes seines Sohnes hatten natürlich den Schaden zu ersetzen. Die monatlichen Abzahlungen würden ihn noch drei Jahre begleiten. „Einen weiteren Kredit von der Bank bekam ich somit nicht. Also suchte ich privat und fand Leo. Er lieh mir 15.000 Euro, in bar.“
„Leo?“ Der Name war Semir am heutigen Tag so oft untergekommen, dass er einfach nachfragen musste, „Leonard Kunze?“ – „Den Nachnamen weiß ich nicht. Ich habe ihn persönlich nie kennengelernt, bis heute kenne ich nur den Namen Leo. Das Geld brachte Murat Yilmaz zu mir, und der holt auch die Raten bei mir ab. 400 Euro pro Monat. Zinsen natürlich höher als bei der Bank, ist ja klar. Aber noch akzeptabel. Das ging problemlos bis vor ein paar Monaten. Und mein Laden lief nach der Investition auch besser. Vor etwa 10 Wochen kam Murat zu mir und sagte, er müsse leider die Raten und Zinsen erhöhen. Es sei denn … ich wäre zu einer kleinen Gefälligkeit bereit.“
„Was für eine Gefälligkeit?“, fragte Semir seinen Bruder, „was solltest du für ihn tun?“ - „Das, was ich in meinem Laden halt mache, Schlüsselkopien, ganz einfach. Er brachte mir Schlüssel und ich kopierte sie, ohne mir die Berechtigungsscheine vorlegen zu lassen, Autoschlüssel, Haustürschlüssel, Firmenschlüssel, Tresorschlüssel, alles was ging. Ich ging schon davon aus, dass sie damit Einbrüche und Diebstähle begehen, und ich mich mit strafbar machte, und mir war bestimmt nicht wohl bei der Sache, das kannst du mir glauben. Aber mich zu weigern, wäre mein Ruin gewesen. Meine Familie und ich sind doch von dem Geschäft abhängig. Aber jetzt wollte ich aussteigen und sie fingen an mich zu bedrohen. Sollte ich mich weigern weiter mitzuarbeiten, oder sollte ich zur Polizei gehen, würden sie meiner Familie etwas antun.“
An dieser Stelle stoppte Kemal mit seiner Erzählung und Semir merkte, dass ihm die nächsten Worte schwer fielen. „Und, Semir, mit „meiner Familie“ meint Murat meine ganze Familie, also auch euch, er hat mir diese Fotos gezeigt und gesagt: ‚Du kannst nicht alle schützen, Gerkan‘. Ich habe Halime und Kerim daraufhin in die Türkei geschickt.“
Und Kemal legte Fotos auf den Tisch, die Semir das Blut in den Adern stocken ließ: Ayda und Lilly vor dem Haus, Andrea und er selbst auf der Auffahrt. Die Bilder konnten erst wenige Tage alt sein, die Jacke hatte Andrea Lilly erst kürzlich gekauft. „Wenn er euch oder deinen Töchtern etwas antut, damit könnte ich nicht leben, Semir.“ Kemal begrub sein Gesicht in seinen Händen und rieb sich die Augen.
Semirs Schockstarre löste sich erst, als er Andreas Stimme hinter sich wahrnahm.
*****
Schon die Türklingel hatte Andrea geweckt, und sie drehte mich im Bett um, um nach Semir zu sehen. Aber der war noch gar nicht im Bett gewesen. Die Leuchtziffern des Weckers zeigten 01:07. ‚Besuch, so spät?‘, dachte sie, war sich aber sicher, dass Semir unten die Sache schon regeln würde. Doch kurz vor dem Eindösen nahm das Gespräch unten einen anderen Tonfall an und nun drang deutlich Kemals Stimme bis ins Schlafzimmer. Die Neugier trieb Andrea aus dem Bett, ja es war reine Neugier, da hört man ewig nichts von Semirs Bruder, und dann kommt er so spät zu Besuch?
Sie zog sich Hausschuhe und Bademantel über, schlich die Treppe zum Wohnzimmer hinunter und hörte noch, wie Kemal sagte: „Wenn er euch oder deinen Töchtern etwas antut, damit könnte ich nicht leben, Semir.“
Andrea stand auf der untersten Treppenstufe, hörte diesen Satz und begann schlagartig zu zittern. Ihr wollten die Beine versagen und sie hielt sich krampfhaft am Treppengeländer fest. „Was sagst du da, Kemal? Wer wird unseren Kindern etwas tun?“, fragte sie mit bebender Stimme. Semir und Kemal fuhren auf dem Sofa herum, sie hatten erst durch diese Frage Andreas Anwesenheit mitbekommen. Semir war mit zwei schnellen Schritten bei ihr und versuchte sie zu beruhigen, indem er sie in den Arm nahm und flüsterte „Niemand, Andrea! Niemand wird ihnen etwas tun“, seine Stimme wurde fester, „niemand!“