Semir richtete sich langsam auf. Der Gesteinsbrocken, der ihn am Rücken getroffen hatte, hatte zwar keine schlimmen Verletzungen verursacht, wie er sofort feststellte, aber weh tat es trotzdem. Diese Schwärze um sie herum war einfach undurchdringlich, aber er musste jetzt trotzdem sofort nach Ben sehen. Plötzlich durchbrach ein schwacher Lichtschein die Dunkelheit. Sarah hatte in ihre Jackentasche gefasst und dort den kleinen LED-Anhänger gefunden, den sie an ihrem Schlüsselbund hatte. Semir war erleichtert, dass sie nun wenigstens ein bisschen sehen konnten. „Sarah, ist dir was passiert?“ fragte er sofort besorgt, während er sich in Ben´s Richtung vortastete, aber zu seiner Erleichterung antwortete sie: „Nein, außer dem Schreck nichts. Hier oben war´s nicht so schlimm, aber Semir, was ist mit Ben?“ fragte sie angstvoll und richtete den Lichtstrahl in die Richtung des Tisches. Darauf sah man unter vereinzelten Gesteinstrümmern einen reglosen Körper liegen. Neben dem Tisch lag der Chemiker, verschüttet unter einigen kleineren Felsbrocken, Gesicht nach unten und rührte sich nicht mehr.
„Bleib erst mal oben und leuchte mir!“ befahl Semir, denn Sarah wollte sich gerade einen Weg nach unten bahnen, aber dann konnte Semir dort überhaupt nichts erkennen und außerdem wollte er auch nicht, dass Sarah einen eventuell schrecklichen Anblick nah vor Augen hatte. So leuchtete Sarah mit zitternden Händen, während Semir begann die Gesteinsbrocken, wenigstens am Oberkörper, von Ben herunterzuräumen. Als er ihn anfasste überkam ihn eine große Erleichterung, Ben atmete, auch wenn er auf die Berührung sonst keine Reaktion zeigte. „Sarah, er lebt!“ rief Semir hinauf und die begann vor Erleichterung zu weinen.
„Gut, jetzt kannst du versuchen, runterzukommen, aber sei vorsichtig!“ befahl Semir, denn außer dass Sarah Ben´s Freundin und die Mutter seines ungeborenen Kindes war, war sie ja immerhin auch noch eine erfahrene Intensivkrankenschwester und konnte vielleicht eher als er abschätzen, was zu tun war. Der Lichtstrahl bewegte sich von ihm weg und eine ganze Ecke entfernt war eine Art Treppe in den Fels gehauen, die weitgehend unbeschädigt war und so konnte Sarah, die sowieso klettern konnte, wie eine Katze, relativ gefahrlos zu ihnen kommen. Sie hörte auf zu weinen, als sie bei Ben und Semir eingetroffen war, atmete tief durch, was allerdings ein Husten zur Folge hatte, denn der Staub hatte sich noch nicht völlig verzogen und begann dann systematisch, Ben´s Vitalfunktionen zu prüfen. Semir hatte inzwischen die restlichen Felsbrocken von seinem Freund heruntergeräumt und begann nun die Fesseln zu lösen.
Ben lag völlig schlaff da. Er hatte ein paar oberflächliche Verletzungen, unter anderem eine Kopfplatzwunde, die ziemlich blutete, aber man konnte sonst von außen nicht viel sehen. Mit Schaudern entfernte Semir die Klebeelektroden. Mein Gott, was hatte sein Freund da schon wieder aushalten müssen! Sarah hatte inzwischen Ben´s Puls an seiner Halsschlagader kontrolliert. Er schlug sehr schnell bei 130 Schlägen pro Minute, also hatte Ben entweder einen Schock, eventuell verursacht durch schwere innere Verletzungen, oder das Mittel, das er gespritzt bekommen hatte, verursachte das. Ben´s Atmung war relativ normal und nur leicht beschleunigt. Als Sarah ihm in die Augen leuchtete und die Pupillen kontrollierte, konnte sie keine Auffälligkeiten feststellen. Die waren weder verengt, noch erweitert, reagierten prompt und waren auch seitengleich, was gegen eine schwere Kopfverletzung sprach.
Die Spritze war samt Nadel aus Ben´s Arm gerutscht und hatte einen kleinen Blutsee verursacht. Ohne viel nachzudenken, machte Sarah die Nadel ab, ließ die auf den Boden fallen und steckte die fast leere Spritze in ihre Jackentasche. Sie kniff Ben in die Wange und sprach ihn laut an, aber es kam keinerlei Reaktion von ihm. Semir hatte besorgt ihr Tun beobachtet und fragte nun: „Und, was denkst du?“ „Im Augenblick ist er relativ stabil, aber ich kann nicht ausschließen, dass er nicht doch schwere innere Verletzungen oder eine Gehirnerschütterung bis hin zur Hirnblutung hat. Er muss sobald wie möglich in ein Krankenhaus, wo man ihn einfach gründlicher untersuchen kann. Außerdem wissen wir auch überhaupt nicht, was für ein Medikament er gespritzt bekommen hat, ich hätte ihn gerne, sobald es geht hier draußen, es ist möglich, dass es um jede Minute geht!“ sagte sie. Gemeinsam drehten sie Ben noch um, aber am Rücken konnten sie keine Verletzungen erkennen und sie ließen ihn nun auf der Seite liegen.
Semir nickte betreten und sagte dann: „Gibst du mir mal die Funzel? Ich schaue dann, ob wir hier auf tschechischer Seite rauskommen, oder vielleicht über die Galerie Hilfe holen können!“ und Sarah gab ihm mit einem Nicken ihren Schlüsselbund. Semir ging erst nach oben, um nach kurzer Zeit festzustellen: „Da geht nur ein Gang weg, vermutlich der, über den du reingekommen bist, aber der ist nach ein paar Metern verschüttet, da ist kein Durchkommen!“ rief er und kletterte wieder nach unten. Der Hauptgang, durch den er gekommen war, war zwar auch weitgehend verschüttet, aber es zweigten ja durchaus noch mehrere Stollen in andere Richtungen ab-vielleicht gab es so einen Weg nach draußen!
In diesem Augenblick rief Sarah: „ Der eine Mann kommt wieder zu sich!“ und nun eilte Semir geschwind zu seinen Freunden zurück. Nach kurzer Überlegung zog er Ben vom Tisch und legte ihn vorsichtig auf dem Boden ab, dann zwang er mit vorgehaltener Waffe den Mann, der nun wieder bei Bewusstsein war, darauf zu klettern und fesselte ihn dort so, wie Ben dagelegen hatte. „Erklär mir wo´s rausgeht! Sonst lassen wir dich hier verschimmeln!“ sagte er grob, aber der Mann wandte den Kopf zur Seite und schwieg. Semir ging nun zu dem Toten und wollte ihm ein paar Kleidungsstücke ausziehen, um notdürftig Ben´s Körper zu schützen, aber die Sachen waren viel zu klein. Auf dem Boden neben dem Tisch entdeckte er dann Ben´s eigene Klamotten, aber die waren kalt, nass und voller Moorschlamm, aha er war also durchaus im Moor gewesen! Die konnten sie ihm nicht anziehen, da würde er nur noch mehr auskühlen. Nur die Schuhe legten sie ihm an, damit seine Füße geschützt waren, wenn er über den Fels gezogen wurde.
Sicher wäre es vernünftiger gewesen, wenn einer versucht hätte alleine rauszukommen und Hilfe zu holen, aber die beiden anderen würden dann in der ungewissen Dunkelheit sitzen und Semir beschloss, dass das nicht zumutbar war. Er würde Ben mit sich schleppen und als er damit begann, wollte Sarah mit anfassen: „Nein Sarah! Du leuchtest uns, aber denk an das Kind-du sollst nicht schwer heben, ich schaff das schon!“ sagte er liebevoll und nun machte sich die kleine Truppe auf den Weg und verschwand in einem kleinen Stollen, der grob geschätzt in die richtige Richtung führte.