Kellerkinder
Die A4 – ein Wintermärchen?
Aus dem anfänglichen Schneeregen war ein kräftiges Schneetreiben geworden, das es vermochte, die Gegend innerhalb weniger Stunden in eine wunderschöne Winterlandschaft zu verwandeln. Der Schnee lag auf den Wiesen, Büschen und Zweigen der Bäume, sparte aber leider die Straßen und Autobahnen nicht aus. Eine weiße Decke, sehr zur Freude der Naturliebhaber und Spaziergänger auf der einen, allerdings zum Ärgernis der Autofahrer auf der anderen Seite, die vor einer einzelnen Schneeflocke ebenso ängstlich auf die Bremse sprangen, wie beim Anblick einer Maus eine Frau im Cartoon auf einen Stuhl.
Auf der A4 kroch der Verkehr auf der rechten Spur. Die linke war kaum benutzt und wies bereits eine durchgehende Schneedecke auf, während sich rechts noch zwei graue Fahrspuren vom übrigen weißen Belag abhoben. Der seit Tagen tief gefrorene Boden reagierte auf den anfänglichen Schneeregen mit gefährlichem Glatteis. Vorausschauendes, vorsichtiges Fahren war erforderlich, um unfallfrei und ohne größere Rutschpartie sein Ziel zu erreichen. Die Autoschlange bahnte sich mit großen Abständen ihren Weg. Mittendrin: Ben Jäger.
Ben löste an diesem Tag sein Nikolausversprechen ein und war mit Ayda und Lilly zum Weihnachtsmärchen der Kinderbühne Aachen gefahren. Nach einem kurzweiligen Theaterbesuch befanden sich die drei jetzt, am frühen Abend, auf der Heimfahrt nach Köln. Dass das Wetter in diese Richtung umschlagen würde, hatte mittags noch niemand ahnen können. Ben, der sich zu Beginn der Fahrt noch angeregt mit den 8- und 3-jährigen Mädchen über das Theaterstück unterhalten hatte, dann aber merkte, dass die Kinder immer schläfriger wurden und ihnen schließlich die Augen zufielen, fuhr langsam und konzentriert dahin. Er schaltete das Autoradio ein und drehte die Lautstärke auf eine angenehme Lautstärke runter. Das Fahren bei diesen Witterungsbedingungen stellte für ihn keine besondere Schwierigkeit dar, solange der Wagen rollte, konnte ihnen nichts passieren, nur Bremse und Gas mussten sparsam dosiert werden, um ein unkontrollierbares Rutschen zu vermeiden. Gefahr ging eigentlich nur von den anderen Verkehrsteilnehmern aus. Solange sich aber jeder an die gleichen Winterfahrregeln hielt, konnten alle sicher ihr Ziel erreichen. Es war mittlerweile stockdunkel und der Schneefall ließ die Scheibenwischer nicht zur Ruhe kommen. Die Sicht reichte, soweit die Scheinwerfer reichten oder eben bis zu den Rücklichtern des Vorausfahrenden.
Es war nur ein Schatten, den Ben wahrnahm. Er kam von rechts über die Böschung auf die Standspur und bewegte sich auf die Fahrspur zu. War es ein Mensch? Ein großes Tier? Ben nahm den Fuß vom Gas, sein Audi verringerte auch brav die Geschwindigkeit. Schemenhaft schlich der Schatten voran, stoppte nicht und zwang Ben so doch zu einer bei diesen Straßenverhältnissen eigentlich zu vermeiden gewesenen Vollbremsung und Lenkbewegung nach links. Sein Wagen reagierte mit einer Schlitterpartie von der rechten auf die linke Fahrspur, ein Lenken war nicht mehr möglich. Dann prallte er gegen die Mittelleitplanke und wurde auf die Fahrbahn zurückgeschleudert, wo er - jetzt fast zum Stehen gekommen – den Schatten touchierte und schließlich zum Stehen kam. Das Ganze begann bei einer Geschwindigkeit von etwa 45 km/h, welche sich durch das Bremsmanöver weiter verringert hatte, so dass sich die Schäden am Auto und – natürlich viel wichtiger – ihrer Insassen in Grenzen hielt.
Ben blickte sich um. Ayda schaute ihn mit großen Augen an: „Was war das, Ben?“ Lilly hingegen schien den Vorfall gänzlich verschlafen zu haben. Der Wagen, der seit geraumer Zeit hinter Ben fuhr, konnte auf die Standspur ausweichen, der ihm Folgende wollte noch auf der Fahrspur bremsen und fuhr mit Schrittgeschwindigkeit in Bens quer zur Fahrspur stehendes Auto und versetzte dieses um etwa einen Meter. Jetzt war auch Lilly wach und schaute sich verwirrt um. Dann war es ganz still. Weiter hinter ihnen kam es noch zu mehreren Auffahrunfällen, die aufgrund der geringen Geschwindigkeit alle glimpflich verliefen und lediglich zu Blechschäden führten. „Seid ihr in Ordnung?“, wollte Ben von Ayda und Lilly wissen, diese nickten als Antwort. „Ihr bleibt im Wagen! Ich schaue nach, was das war.“ Ben löste seinen Gurt, öffnete die Fahrertür und setzte einen Fuß auf den Asphalt. Er wäre fast ausgerutscht und konnte einen Sturz nur durch das Festklammern an der Fahrertür vermeiden. Dann beugte er sich noch einmal ins Wageninnere: „Bleibt auf jeden Fall hier drinnen sitzen, hier draußen ist es schweineglatt!“
Eine Hand immer am Wagen, tastete er sich vorne um die Motorhaube des Audis herum und blickte zu Boden. Er fuhr zusammen. Kein Schatten! Kein Tier! Vor ihm lag – eine Frau!