Entlassen
Mit dem tödlichen Sturz von Maximilian Lange musste Alex seine Hoffnung begraben, auch Tommy in kurzer Zeit seine wahre Familie präsentieren zu können. Er übergab Susanne die dürftigen Informationen, die er Maximilian auf dem Dach entlocken konnte, mit der Bitte, sich doch um die Suche zu kümmern. Sich selbst nahm er ein paar Tage Auszeit, er wollte der Trauerfeier für seine Cousine Sandra beiwohnen, außerdem wollte er Semir den Ausgang des Falls mitteilen und um ein neues Auto musste er sich auch kümmern. Der Bericht musste warten, und zum Todessturz konnte auch das SEK Stellung nehmen. Er machte den Kollegen keinen direkten Vorwurf, nur der Zeitpunkt und die Lautstärke ihres Auftretens war so denkbar ungünstig gewesen.
Alex verließ die PAST und fuhr als erstes zu Semir, der in seinem Krankenhauszimmer auf seinem Bett saß und auf seine heutige Entlassung wartete. Seine Verletzungen könnten jetzt auch zuhause heilen, meinte er zu Alex, als dieser ihn etwas erstaunt anblickte. „Du willst dich jetzt also in den nächsten Wochen von Andrea verwöhnen lassen?“, fragte er seinen Partner. „Ja, wie schon die letzten zehn Jahre. Nein, aber ich muss wirklich nicht mehr hier liegen, das kann ich auch auf der Couch, und meine Familie fehlt mir jetzt schon nach der knappen Woche. Solange ich Arm und Schulter schone, wird es gehen.“ – „Maximilian ist tot.“ – „Was?“ – „Er ist vom Dach seines Hauses gestürzt. Ich hatte ihn fast soweit, mir zu erzählen, wo er Tommy damals geholt hatte, da stürmte das SEK hinter mir auf das Dach. Lange hat sich erschrocken, taumelte drei Schritte rückwärts und fiel.“ Alex hatte sich mittlerweile hingesetzt. „Aber ich habe den Nachnamen. Sanders. Hier aus Köln. Frau Sanders hat Maximilian Lange ihr Kind verkauft, für 10.000,00 DM. Unvorstellbar, oder? Susanne sitzt schon dran.“ Semir konnte nur mit dem Kopf schütteln. Ihn wunderte in der Geschichte eigentlich gar nichts mehr. „Und ich habe jetzt eine Woche Urlaub. Sandras Beerdigung ist morgen.“ Semir nickte stumm und blickte in Alex traurige Augen. „Wenn du es zuhause nicht aushältst, kommst du zu uns, verstanden? Ich bin in den nächsten Wochen wohl fast immer dort anzutreffen und für jede Gesellschaft dankbar. Unsere Tür steht dir immer offen, okay?“ – „Danke, Semir. Soll ich dich nach Hause fahren? Oder holt Andrea dich ab?“ Alex wies auf die Tasche. „Wenn du das machen würdest, warte, ich rufe Andrea schnell an, dass sie nicht los muss. Der Arzt wollte gleich noch kurz mit mir sprechen, dann können wir los.“
Besuch bei Semir
Semir war vor wenigen Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden und wartete jetzt zuhause die Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit ab, die aber wohl noch einige Wochen auf sich warten lassen wird. Am frühen Nachmittag war er mit Andrea alleine im Wohnzimmer, als es an der Haustür läutete. Andrea stand auf und öffnete. Vor der Tür stand eine junge blonde Frau, den einen Arm im Gips und unter dem anderen ein Geschenk, in der Hand einen Strauß Blumen.
„Guten Tag, ich bin Miriam Schröter und möchte zu Herrn Gerkan, ist das möglich?“ - „Sicher, kommen Sie rein.“ Andrea ließ die Frau ins Wohnzimmer. Diese übergab die Blumen an Andrea. „Die sind für sie. Und das hier“, sie nahm das Geschenk in die jetzt freie Hand, ist etwas Schokolade für Sie, Herr Gerkan. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken und um Entschuldigung bitten.“
Semir versuchte, aufzustehen, es fiel ihm aber schwer, sich nur mit einer Hand abstützend aus dem tiefen Sofa zu erheben. „Bleiben Sie ruhig sitzen“ - „Wofür?“, fragte Semir, nachdem er es sich wieder bequem gemacht hatte. „Setzen Sie sich doch bitte. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee oder Tee vielleicht?“ - „Tee wäre sehr nett.“ Semir blickte Andrea an, die verstand. „Dann mache ich noch den Tee für euch und fahre dann gleich Ayda und Lilly abholen.“ Damit ging sie in die Küche, stellte die Blumen in eine Vase und hörte dem Gespräch von dort zu.
„Wofür möchten sie um Entschuldigung bitten?“; wiederholte Semir seine Frage von eben. „Für das, was Maximilian getan hat.“ - „Aber Frau Schröter, Sie können doch nichts für die Taten dieses Mannes. Da ist einzig und alleine er selbst für verantwortlich.“ - „Ja, das schon. Aber ich hätte Sie warnen können und müssen. Am Tag nach dem Unfall waren Sie bei mir im Krankenhaus. Und ich habe geschwiegen. Ich hätte Ihnen die ganze Geschichte erzählen müssen. Es war töricht von mir zu denken, ich könnte ohne Polizei damit klar kommen. Dass Maximilian gefährlich sein würde, hätte ich Ihnen sagen können. Und das habe ich nicht. Das tut mir leid.“ - „Machen Sie sich darüber man keine Gedanken mehr. Ich trage es Ihnen nicht nach. Und, auch mit der Warnung hätte er auf uns geschossen, als wir auf seinen Hof fuhren.“ - „Hätten Sie nicht Verstärkung gerufen, wenn Sie von der Gefährlichkeit gewusst hätten?“ - „Das hätten wir vielleicht ...“, begann Semir, wurde dann aber von Andrea unterbrochen: „Das hätten Alex und Semir bestimmt nicht getan, glauben Sie mir, Frau Schröter“, sie stellte Teetassen und die Kanne auf den Wohnzimmertisch ab, „so, ich muss los.“ Andrea beugte sich zu Semir, gab ihm einen Kuss und dann Miriam die Hand. „War nett, Sie kennen gelernt zu haben. Und vielen Dank für die Blumen.“
„Werden Sie der Sache nachgehen?“, fragte Miriam Semir - „Sie meinen...“ - „Ja, dass mit Tommy, dass er als Kind gekauft worden sein soll?“ - „Mein Partner ist an der Geschichte dran. Ich verspreche Ihnen, dass wir herausfinden werden, wo Tommy herkommt und seine wirkliche Familie finden werden.“ - „Ich weiß nicht, ob er sie wirklich kennerlernen möchte. Wissen Sie, wo ein Käufer ist, ist auch ein Verkäufer. Wer verkauft sein Kind denn für 10.000 Mark? Das sind gerade etwas mehr als 5.000€.“ - „Gerade das interessiert uns. Tommy kann dann selbst entscheiden, ob er den Kontakt haben möchte, oder nicht.“ Sie tranken Tee.„Ihr Partner hat seine Cousine verloren durch die Hand von Maximilian. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Und Sie hätte er auch fast getötet.“ Miriams Blick wanderte durch das Wohnzimmer der Gerkans und blieb an einigen Weihnachtsgeschenken hängen, die noch immer in einer Ecke liegen. Sie blickte Semir nicht an, als sie leise fragte: „Es war Weihnachten, oder?“ - „Ja, wir werden die Bescherung demnächst nachholen, finden nur, dass die Großeltern und Ben dabei sein müssten. Aber mal was anderes: Was haben Sie jetzt mit Ihrem Leben vor?“ - „Tommy und ich werden ab April wieder zur Schule gehen und den Schulabschluss nachholen, so sehen unsere nächsten Jahre aus. Es ist aufregend, das freie Leben kennen zu lernen, andere Menschen zu treffen. Ich mache gerade den Führerschein. Unvorstellbar, was wir alles versäumt haben. Das werden wir jetzt alles nachholen.“
Semir wollte etwas darauf erwidern, wurde aber durch die Ankunft seiner Familie unterbrochen. Miriam beobachtete die Begrüßung der Kinder, die sich dann neben Semir auf die Couch setzten und war froh, dass es Maximilian nicht gelungen war, diesen Mädchen ihren Vater zu nehmen. Aber sie fühlte sich plötzlich etwas fehl am Platz und stand auf, um zu gehen. „Ich werde dann mal wieder. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich unendlich froh bin, dass Sie uns geholfen haben.“ - „Wir haben nur unseren Job getan, Frau Schröter. Und wenn wir Tommys Geschichte geklärt haben, melden wir uns bei Ihnen. Und Sie sollten jetzt beginnen, Ihr Leben zu leben.“ – „Das werde ich, und Sie, passen Sie gut auf sich und Ihre Familie auf.“