Im Wagen - zur gleichen Zeit
Kevin spürte das Gerumpel, wie sein Körper über die harte Metallauflage des Geländewagens im Kofferraum schob, sein Kopf immer mal gegen die Blechwand schlug. Er lag gut verschnürt im hinteren Teil des Wagens, der zum Fahrerraum offen war, das Klebeband wieder auf dem Mund, die Augen wieder verbunden.
Nachdem Jessy ihn in seinem Raum wieder allein gelassen hatte waren nur wenige Minuten vergangen. Dann kamen sie zurück, Andreas presste dem Polizisten die Waffe ins Genick und versprach dass die Waffe geladen war. Kevin hatte Jessy schon nicht unbedingt geglaubt, dass sie vorher nicht geladen war, und so konnte er sich schlecht wehren. Thomas band ihm die Arme vom Ring, um sie danach sofort wieder mit Kabelbinder zu fesseln... diesmal noch enger und schmerzhafter als zuvor. Die scharfen Kanten drückten sich noch tiefer ins ohnehin schon gerötete Fleisch an Kevins Handgelenken. Die Augen wurden ihm erneut verbunden, die Fussfesseln für den Weg zum Auto gelöst, um sie ihm dort wieder zu verbinden. Jessy hatte die ganze Zeit stumm im Raum gestanden und ihre beiden Brüder dabei beobachtet. Kurz warf Kevin ihr einen Blick zu, bevor ihm die Augen wieder verbunden wurden, auch er blieb stumm und leistete erstmal keinen Widerstand. Er musste warten, bis er seine Chance zur Flucht bekam.
Irgendwann spürte der junge Polizist, dass die Schaukelei aufhörte, und der Wagen beschleunigte. Offenbar war man auf einer befestigten Straße angekommen. Im Fond war es mucksmäußchenstill, nur Jessy fragte einmal, wo man ihn denn jetzt hinbringe. Einzige Antwort von Thomas war: "Das siehst du gleich." Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Kevin aus. Die drei waren definitiv keine Profis, die würden niemals das Risiko eingehen, für einen Polizisten Lösegeld einzufordern. Aber freilassen würden sie ihn auch nicht einfach so, schließlich konnte er ihre Gesichter beschreiben, und man würde sie wohl schneller verhaften, als sie sich absetzen könnten. Doch waren sie so skrupellos ihn einfach umzubringen? Da hatte Kevin wiederrum seine Zweifel.
Die Fahrt dauerte an, und der junge Polizist bemerkte nicht, was um ihn herum passierte. Er sah nur Schwärze und fühlte sich wie in einem stickigen Raum, in dem es zu wenig Luft zum Atmen gab... das lag an dem Klebeband auf seinem Mund, sein Atem war schnell und unruhig, beinahe mühsam. Irgendwann hörte er Jessys Stimme: "Können wir ihm nicht wenigstens das Klebeband vom Mund nehmen? Der erstickt uns da hinten ja noch." Sie kniete auf den hinteren Sitzen und sah über die Lehne in den Kofferraum herunter auf Kevin. Irgendwas an dem jungen Mann zog sie magisch an, was sie sich selbst nicht erklären konnte, und sie hatte Mitleid mit ihm. "Bist du wahnsinnig?", fuhr Thomas herum, der seitdem er wusste dass Kevin ein Polizist ist mehr als nur gereizt war. "Was soll er denn machen? Um Hilfe rufen?", fragte das Mädchen und kicherte, bevor sie sich wieder nach hinten drehte, wo Kevin sich ob des Gespräches von der Körperseite auf den Rücken rollte. "Ich hab NEIN gesagt.", rief der Fahrer des Geländewagens ungehalten. "Thomas, sie hat doch recht. Wenn er zuviel labert stellen wir ihn halt wieder ruhig.", hörte Kevin nun die Stimme des Muskelpaketes mit wenig Hirnmasse, Andreas. Diesmal klang er jedoch beinahe vernünftig. Thomas schwankte zwischen Ärger, Verzweiflung und Resignation. Die Situation überforderte ihn merklich, er hatte sich alles viel einfacher vorgestellt. "Macht doch was ihr wollt.", klang seine Stimme müde und er schüttelte den Kopf. Jessy lächelte, schnallte sich vom Sitz ab und stieg über die Rücklehne zu Kevin in den Kofferraum. Der lag auf dem Rücken, hatte die Beine angezogen da der Kofferraum nur begrenzt groß war. Doch man konnte bequem an einer Seitenwand nebeneinander sitzen.
Der Polizist spürte, wie Jessy sich neben ihn kniete, er konnte ihre Knie an seinen Rippen spüren. Offenbar genoß sie ihre Rolle, mal das kleine süße Mädchen zu spielen, und mal die skrupellose Entführerin wie eben, als sie ihn bedroht hatte. Vorsichtig, ohne Kevin weh zu tun zog sie das Klebeband vom Mund und der Kommissar sog die Luft durch den Mund ein. Sein Kopf fuhr verwirrt herum, den nach wie vor konnte er nichts sehen. Als sich eine kleine Hand auf seine Brust legte, zuckte der muskulöse, aber nicht kräftige Körper von Kevin kurz auf, denn er sah die Hand nicht kommen. "Dein Herz schlägt ganz schnell.", flüsterte die Mädchenstimme so leise, dass ihre Brüder sie durch den Fahrzeuglärm nicht hören konnte... auch weil beide ihren Gedanken nachhingen, wie diese Entführung nun weitergehen sollte. "Hast du Angst?", fragte die flüsternde Stimme mit der Hand auf Kevins pochender Brust, der sich diesen Herzschlag selbst auch nicht wirklich erklären konnte. "Ich werd nicht jeden Tag entführt...", gab er mit seiner markanten Stimme zurück, und drehte den Kopf in die Richtung, aus der Jessys Stimme kam. Ihre Hand erhob sich langsam von seiner, sich hebend und senkenden Brust, und schob die Augenbinde wieder nach oben auf seine Stirn, so dass sich die Blicke sofort trafen, auch wenn Kevin erst einmal von der Sonne, die den Wagen erhellte, geblendet wurde und die Augen kurz zusammenkniff. "Hey, wehe du sagst wieder, ich hätte mir das Band hochgeschoben.", flüsterte er und erinnerte sich daran, wie Jessy ihm dafür die Schuld in die Schuhe geschoben hatte vor einigen Stunden. Sie musste kichern. "Das tut mir leid. Aber du kannst mich doch nicht einfach für so dumm halten, dass ich dich an dein Handy rangehen lasse." Offenbar hatte es sie geärgert, dass Kevin versuchte ihre scheinbare Naivität auszunutzen. Den Fehler würde er nicht noch einmal machen, denn egal wie naiv Jessy tat oder tatsächlich war... sie war absolut unberechenbar.
Mit Kraft und Anstrengung schaffte Kevin es, sich nach hinten zu schieben und zumindest den Oberkörper mit dem Rücken an die Lehne der hinteren Sitze zu legen, und sich aufzusetzen. Die Lehnen waren hoch genug, dass Andreas und Thomas es nicht sah, dass er keine Augenbinde mehr an hatte. Jessy setzte sich neben ihn, auf dem Rücksitz war sie allein, vor allem weil ihre Brüder gerade keine Lust auf irgendwelche Gespräche hatten. "Ich dachte immer, Polizisten sind spießige Anzugsträger.", flüsterte Jessy und betrachtete den jungen Mann nochmal von oben bis unten. Seine bereits etwas abgelebte Lederjacke, seine stachlige Frisur, seine Ketten um den Hals, seine verschlissene Jeans. Er musste lächeln, wie oft beschwerten sich seine eher vornehmer gekleideten Kollegen bei der Mordkommission über den jungen Kollegen, der manchmal rumlief wie ein Verdächtiger selbst. "Und welche Verbracher jagst du so?", fragte sie neugierig. Was wurde das hier, waren Kevins Gedanken? Es war eine surreale Situation, ein Gespräch wie bei einem Flirt in der Discothek, allerdings war sie eine Entführerin, und er ihr Opfer. Aber etwas Vertrauen aufbauen konnte ja nicht schaden. "Ich war bei der Mordkommission.", antwortete er wahrheitsgemäß. "War?" "Momentan mache ich nichts." Er sah aus dem Heckfenster und sah nichts als blauer Himmel und ein paar weiße Wolken. "Und warum nicht?", fragte Jessi und lag ihre Hände auf ihre Jeans, die einige Löcher hatte. Kevins ernstes Gesicht bewegte sich hin und her, weil er den Kopf schüttelte. Die Wahrheit wollte er sicher nicht erzählen. "Ich muss mal was Neues machen.", war seine ausweichende Antwort. Glücklicherweise redete Jessy jetzt selbst, und was sie sagte überraschte den Polizisten und berührte ihn auch. "Ich wollte immer Lehrerin werden.", sagte sie und sah ebenfalls mit leuchtenden Augen aus dem Fenster. "Oder Krankenschwester. Irgendwas mit Leuten oder Kindern." Der junge Polizist spürte innerlich, dass sie das Leben, das sie jetzt lebte, selbst nicht gewollt hatte. "Und... warum bist du es nicht?", fragte er ehrlich und sah Jessy von der Seite her an, so dass er ihr Profil und ihre Gesicht von der Seite sah. "Ach...", meinte sie mit etwas trauriger Stimme... "weißt du... das ist schwierig...", dann wurde sie unterbrochen davon, dass der Geländwagen wieder verlangsamte und anhielt. In der Begegnung hatten beiden nicht mitbekommen, dass Thomas mehrmals abgebogen war und jetzt vor einem alten, größeren Haus anhielt. Jessy schien das Haus zu kennen als sie aus dem Fenster sah. Sie sah Kevin ein wenig mitleidig an und zog ihm die Augenbinde wieder herunter, um dann wieder über die Sitzreihe nach vorne zu klettern.